Tick, Tick… Boom! – das klingt nach Onomatopoesie, also Lautmalerei. Als ob es nur noch Sekunden dauern würde, bis eine Bombe hochgeht. Eine Bombe, die fatale Folgen hat. Entweder für uns alle oder auch nur für eine Person. Folgerichtig beginnt das gleichnamige Musical mit einem Metronom. Ein immer gleiches, lautes Ticken, das jedoch nur Hauptcharakter Jon wahrnimmt. Im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen darf man beobachten, was es mit ihm macht.
Schritt zurück: Komponist von Tick, Tick… Boom! ist Jonathan Larson. Der Name klingelt wohl nur bei der Hardcore-Musical-Fanfraktion. Erwähnt man jedoch, dass sein erfolgreichstes und gleichzeitig letztes Stück “Rent” ist, kommt zumindest aus der “Ich kenn mich halbwegs gut mit Musicals aus”-Ecke ein aufgeklärtes “Ahhhh”. “Rent” ist nicht weniger als das zwölftmeistgelaufene Stück am New Yorker Broadway. Das entspricht über 5100 Aufführungen ohne Unterbrechung und einem wahren Hype. Leider sah Larson selbst keine einzige davon, starb er nämlich im Alter von gerade einmal 35 Jahren am Tag der Premiere an einem Aortenaneurysma. Was ein mieser Schachzug des Schicksals. Positiver hingegen: In wenigen Wochen startet der in Deutschland verdammt selten gespielte Hit im Theater Dortmund, doch dazu dann zum gegebenen Zeitpunkt mehr.
Denn vor dem Erfolg gibt es oft verdammt viel Misserfolg. Und genau darum dreht sich Tick, Tick… Boom!. Das halbautobiografische Musical erzählt die Geschichte von Jon – Zufall? Nope! -, der unbedingt endlich mit einem Musical den Durchbruch schaffen möchte. Seine bisherigen Arbeiten wurden zwar nicht verrissen, aber eben auch nicht gefeiert. Gleichzeitig steht ein bedeutungsschweres Datum im Raum: In wenigen Tagen wird er 30. Schaut er sich an, was seine Freund*innen mit 30 geschafft haben, fühlt er sich hingegen wie ein Versager. Es muss nun einfach endlich klappen. Wo ist der Sinn von diesem ganzen anstrengenden Ding namens Leben?
Nach dem viel beachteten “Hedwig and the Angry Inch” aus 2022 wählt das MiR erneut ein Werk, das einerseits nicht jedem ein Begriff ist, andererseits aber auch durch enorm wenige Darsteller*innen auskommen muss. Eine weitere Gemeinsamkeit: Die Hauptfigur wechselt stets zwischen einem an das Publikum gerichteten Monolog und Dialogen mit den anderen Charakteren. Und nicht zuletzt findet man in beiden Stücken Rocknummern, die nicht dem Klischeebild von Musical-Songs entsprechen.
Wer also mit “Hedwig” was anfangen konnte, findet wohl auch an dem im Juni 2001 in New York uraufgeführten Tick, Tick… Boom! Gefallen. Allerdings sollten nicht nur Anhänger*innen der letzten MiR-Produktion den Weg zurückfinden. Stattdessen ist schon an dieser Stelle eine Empfehlung für alle auszusprechen, die Musical mögen, Musical nicht mögen, klassisches Musiktheater lieben oder der Gen Z angehören. Denn die mit gerade einmal 100 Minuten und ohne Pause gespielte Inszenierung liefert von der ersten bis zur letzten Sekunde ab. Und das quasi in allen Aspekten.
Ein kleiner Kritikpunkt: Bei der Premiere am 9.9., die mindestens zu geschätzten Zweidrittel belegt ist, ist in den ersten zehn Minuten der Sound noch nicht ganz fein. Die vierköpfige Band unter der Leitung von Wolfgang Wilger spielt fantastisch, aber haut eben auch so in Tasten und Saiten, dass es am Anfang ganz schön knallt. So laut, dass zumindest zu Beginn die Darsteller*innen nicht ganz dagegen ankommen. Das regelt sich aber vergleichsweise schnell und sollte ab der zweiten Aufführung schon viel besser funktionieren. Dann war es das aber auch schon mit Nörgelei, denn das gut anderthalbstündige Stück ist gesanglich, schauspielerisch und noch mehr in seiner Aussage einfach genau das, was es 2023 braucht.
Allen voran steht der Niederländer Luc Steegers als Jon, den hier in der Gegend vielleicht noch nicht alle auf dem Schirm haben, das nun aber unbedingt ändern müssen. Er hat die wirklich herausfordernde Aufgabe ohne Pause auf der Bühne zu stehen. Jede Szene gebührt ihm, an nahezu jedem Song ist er beteiligt. Das heißt also konkret: Durchziehen, ohne einmal kurz durchzuatmen oder gar etwas zu trinken. Steegers spielt und tanzt so groß, dass man ihm die innere Zerrissenheit seiner Figur unmittelbar abkauft, denn das auf Deutsch gespielte und gesungene Tick, Tick… Boom! macht vor allen Dingen aus, dass es zwar oft etwas ausweglos erscheint, aber selten wirklich ist.
Steegers spielt in einem Bühnenbild, das sich nie verändern wird. Um ihn herum gibt es nur ein paar Requisiten, darunter auch ein paar Leitergerüste, ein Lampenschirm und viele Umzugskartons. Obwohl das Auge zunächst erwarten könnte, dass es schnell gelangweilt wird, ist das Stück so gut erzählt, dass der ständige Ortswechsel in der Geschichte immer nachvollzogen werden kann. Sowieso ist Tick, Tick… Boom! wesentlich mehr Musiktheater als typisches Musical, weil der Spielanteil wirklich groß ist und man sich das Drumherum eben oft im Kopf vorstellen muss, was aber ohne große Hürden klappt.
Schuld allein hat daran jedoch nicht nur Steegers, sondern auch seine zwei auf demselben Niveau agierenden Mitspieler*innen. Wer den vor einigen Jahren auf Netflix erschienenen Film gesehen hat, der Andrew Garfield in der Hauptrolle sogar eine Oscarnominierung einbrachte – falls ihr ihn noch nicht kennt, könnt ihr ihn euch übrigens sparen – weiß, dass es eigentlich viel mehr Charaktere gibt. Die werden in Gelsenkirchen von gerade einmal zwei weiteren Darsteller*innen übernommen. Inga Krischke, die an der Folkwang nur wenige Kilometer entfernt studierte, darf sieben (!) Rollen übernehmen, Sebastian Schiller fünf. Beide switchen sogar in einigen Szenen gleich mehrmals, sodass sie sich in Sekundenschnelle umziehen müssen, um anschließend wieder mit neuer Stimmlage und neuem Outfit zurück auf die Bühne kehren. Dass das Trio hier wirklich alles gibt, wird auch an den Gesichtern deutlich, die nicht selten einige Schweißperlen vorweisen.
Doch genau das ist es, was Tick, Tick… Boom! in der gerade gestarteten Spielzeit ausmacht. Man kniet sich richtig rein, darf emotional einmal die gesamte Palette durchspielen und bekommt von jedem*jeder Darsteller*in gleich mehrere “Moments to Shine” serviert. Das hat ansteckend viel Energie, das hat richtig hohen Anspruch und wirkt gefühlt und nicht einfach abgespult. Die Tatsache, dass es keine Pause gibt, spielt dem Stück ebenso positiv in die Karten, da man nicht aus der Atmo herausgerissen wird. Stattdessen kommt ein Highlight nach dem nächsten. Fabelhaft.
Eine Szene hervorzuheben, wäre unfair, da es bedeuten würde, die anderen seien schlechter. Am Ende nimmt man wohl zwei, drei Augenblicke ganz besonders mit nach Hause, was aber eine individuelle Entscheidung sein wird. Doch das Stärkste an dem viel zu unbekannten Werk ist seine Aussage: Sobald du dich mit dem Gedanken beschäftigst, dass das Leben endlich ist, solltest du ins Tun kommen. Geburtstage mit einer 0 am Ende wirken zwar immer bedrohlich, sind aber in Wirklichkeit nur ein weiterer vergangener Tag, der nie zurückkommt. Ob das Ticken in Jons Kopf ein Tinnitus ist, eine Art Psychose, ein Weckruf – das bleibt Interpretation. Genau deswegen sollte Tick, Tick… Boom! besonders bei einem jungen Publikum wirklich einschlagen, da es auch aus schwierigen Themen eine zwar einfache, aber gleichzeitig so wichtige Message herauszieht. Zukunftsängste sind real. Rückschläge sind schmerzhaft, können aber motivieren und lehren. Irgendwann wird Fleiß belohnt, irgendwann wird die richtige Person anerkennen, was man tut. Und dann wird alles besser. Das Selbstbild, Beziehungen zu den Liebsten, der Antrieb für den Alltag. Kam im Musiktheater im Revier herüber und klingt nach. Applaus.
Und so sieht das aus (Trailer zur Netflix-Produktion):
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Foto von Christopher
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