Neid. Es gibt keinen anderen Grund, warum auf einmal Julia Engelmann von ihren eigenen Weggefährt*innen so angefeindet wurde. Sie verkaufe, verhunze den Poetry Slam. Sie würde ihn denjenigen zugänglich machen, die nichts von moderner Dichtung verstehen. Mag sein. Aber wer sagt bitte dazu Nein, das Hobby endlich zum Beruf zu machen? So nämlich! Die 31-jährige hatte eben das, was es im Leben neben Talent noch so braucht: Glück.
Ihr im Mai 2013 aufgeführter “One Day / Reckoning Text” traf eben den Nerv der Zeit. Er rüttelte ein wenig wach, tat ein bisschen weh und kam mit so viel lockerer Leichtigkeit daher, dass er viral ging und sie zwar nicht über Nacht, aber vielleicht über 100 Nächte zum Star machte. Zehn Jahre später ist sie siebenfache (!) Spiegel-Bestsellerautorin, spielte zwei Jahre bei der RTL-Show “Alles was zählt” und in einigen Filmen mit und enterte sogar als Sängerin die Album-Top-10. Doch besonders das letzte Detail stößt sauer auf.
Denn das 2017 erschienene Debütalbum “Poesiealbum” war vor allen Dingen eins: echt schlecht. Und das konnte man vorab gar nicht erahnen, ballerte Julia Engelmann doch eben treffsichere Lyrik am Fließband raus. Auch ihr erster Song “Grapefruit” zeigte, dass vertonte Gedichte super funktionieren können, zumindest wenn alles zusammenpasst. Genau das klappte dann bei der LP nur eben kaum noch, gab es einen fürs Radio konstruierten Seicht-Pop nach dem nächsten, bei dem jegliches Talent wie weggeblasen schien.
Zum Glück war’s nicht weg, es wurde nur ungünstig verpackt. Der Gegenbeweis: Ihre Liveshows, die auch uns 2018 stark begeistern konnten. Ihre Songs funktionieren einfach um Längen besser, wenn sie wohlig dosiert zwischen ihrer eigentlichen Passion, dem Vortragen von Gedichten, erscheinen und Julia sie lebendig performt. Nun versucht sie es aber trotzdem noch einmal mit einem Longplayer, der mit gleich sechs Jahren nach dem Erstlingswerk überraschend spät kommt. Schlecht lief der Verkauf der ersten Platte nämlich nicht, da hätte ein Album ein Jahr später weniger irritiert als eine Pause von sechs Kalenderrunden. Es wird also der Eindruck erweckt, sie würde sich neu erfinden und dem Prozess mehr Reife eingestehen.
Und sagen wir so: Splitter ist definitiv eine Weiterentwicklung zu “Poesiealbum”. Dieses Mal probiert die in Elmshorn in Schleswig-Holstein geborene Künstlerin nicht im Nachmittagsprogramm des Lokalradios zu landen, sondern konzentriert sich wesentlich mehr auf das, was wohl der Großteil ihrer Fans mag. Die Grundhaltung ist äußerst schwermütig und lethargisch, was aber einfach glaubwürdiger wirkt. Dem entsprechend ist auch der Sound vom reduzierten Gute-Laune-Sing-A-Long zu eher düsterem Singer-Songwriter-Pop mit vereinzelten Electro-Einstreuungen gewechselt. Das ist gut.
Wiederum nicht gut ist, dass sich die Qualität nur um ein, maximal zwei Schritte verbessert hat, wir aber eher sieben bis acht bräuchten. Denn am Ende scheitert Splitter vor allen Dingen an seiner totalen Einfältigkeit. Mit 17 Songs gibt es zwar überdurchschnittlich viel in der Auslage, allerdings sind für 17 Songs leider keine Ideen da. Spätestens ab der Hälfte fängt an, alles ziemlich gleich zu klingen. Das jedoch nicht nur in der Aufbereitung des Beats, sondern sogar in den inhaltlichen Aussagen.
Dabei geht das Ganze richtig gut los. Nach einem gesprochenen “Prolog”, in dem Julia von dem kaum auszuhaltenden Gefühl berichtet, womöglich immer alleine zu bleiben und sich ungeliebt zu fühlen, ist der Bogen gespannt, um sich jetzt mal im Selbstmitleid und Selbstzweifel verstanden und abgeholt zu fühlen. Im direkten Anschluss spricht sie Respekt, Anerkennung und Ehrfurcht für ihre Eltern aus, was auch ungefiltert treffsicher funktioniert (“Rasierwasser & Kastanien”). Und da nun mal aller guten Dinge drei sind, ist auch “Bauchgefühl” gelungen, bei dem die Protagonistin im dramatischen Dreiertakt sich zu der Person hinwendet, die sie nie aufgeben wollte.
Doch dann ist anscheinend Splitter schon auserzählt. Im Stimmumfang hat sich Julia um ein bis zwei Töne nach oben hin sogar gebessert, trotzdem säuselt sie sich fast ausnahmslos durch knapp 45 Minuten, als ob es eigentlich nicht so richtig ihr Ding ist. Irgendwie entsteht ein Gefühl, als ob sie wüsste, dass am Ende nur Mittelmaß dabei rumkommt. Offensichtlich ist das Schreiben von Texten, die man ohne Musik vorträgt, schlichtweg etwas anderes als das Schreiben von Songtexten.
Ganz besonders bei den schwer auszuhaltenden, direkt aufeinander folgenden Titeln “Irgendwie schön”, “Traurige Augen”, “Lieder zum Weinen” und “Nicht mehr warten” möchte man stampfend und wütend losschreien, dass man es doch wirklich jetzt verstanden hat. Die ständigen “Danke, dass du da bist”, “Ich bin das Problem”, “Du bist ok, so wie du bist” und “Warum kriegen wir das nicht hin, es war doch mal so toll”-Paroli spielen Quartett. Nicht-Lieblingssongzitat: “Du hörst grad Lieder zum Weinen, aber bald hörst du Lieder zum Tanzen”. Wie kann das ernsthaft von einer Person kommen, die in ihren zweieinhalbstündigen Shows fast ohne Hänger liefert? Engelmann präsentiert sich hier als depressive “Leiser”-Lea. Haben wir das gewollt?
Schade: Der Abschluss mit “Nur weil ich still bin” zeigt, dass es anders geht. Auf einmal gibt es einen tanzbaren, stampfenden Beat mit einem schwebenden Refrain. Wo war das die Dreiviertelstunde davor? Von solchen auflockernden, aber trotzdem noch melancholischen Augenblicken hätte es so viel mehr gebraucht, um sich schließlich aufgefangen zu fühlen und nicht noch leerer als vorher. Textlich – allerdings nur textlich – gut gemacht ist außerdem “Wie man Freunde verliert”, mit dem man zwangsläufig als Post-Teenager copet.
Splitter ist das Buch, welches im Handel unter “Geschenkideen” steht, für introvertierte Student*innen, bei denen es gerade nicht so läuft. Das ist auch fein und ok, aber Julia Engelmann selbst ist mittlerweile über 30 und sollte eigentlich vieles etwas leichter nehmen und weniger oberflächlich umschreiben. Ihr wirklich vorhandenes Talent funktioniert ausschließlich in gesprochenen Worten einfach so entschieden viel besser, weil es viel klüger, durchdachter und treffsicherer auf einen einprasselt. In Musikform prasselt es leider so gar nicht, gleicht eher dem viel zu leichten Händedruck und ist erneut weit hinter den Möglichkeiten.
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