Hedwig and the Angry Inch, Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, 05.02.2022

Musicals sind aktuell ein wenig der „Last Man Standing“. Werden Konzerte der Reihe nach abgesagt, haben die Theater immerhin die Möglichkeit, Kapazitäten anzupassen und so zumindest vor kleinerem Publikum ihre Stücke aufzuführen. In Gelsenkirchen feiert man sogar Premiere mit einem, das es viel zu selten auf den Spielplan schafft: Hedwig and the Angry Inch.

Große Musicalfans, die auch über den typisch deutschen Tellerrand hinausschauen können, rasten nun aus, alle anderen haben Fragezeichen im Gesicht. Bis heute ist das 1998 am Off-Broadway – für diejenigen, die auch hier nicht wissen, was Sache ist: So nennt man die Musicalszene in New York, die nicht auf der einen pompösen Straße stattfindet – uraufgeführte Stück in Deutschland ein Insidertipp. Gleichzeitig genießt es in den USA Kultstatus, hat auch in zig europäischen Ländern für Jubelstürme gesorgt und wurde sogar nur ein Jahr nach der Uraufführung in NY bei uns gezeigt – trotzdem hat es auch 23 Jahre später nicht jede*n erreicht.

Das liegt einerseits daran, dass es oft nur kleine Bühnen in den größten Städten des Landes bespielte, oft schnell wieder weg war und ganz besonders thematisch einfach Nischenprogramm ist. Aber Queerness ist en vogue, mittlerweile endlich im Mainstream angekommen und nicht mehr anstößig, sondern einfach schillernd, bunt, facettenreich, aufregend und normal. Also darf die berührende und nachdenkliche Geschichte um Hansel bzw. Hedwig diese Saison im kleinen Haus des Musiktheaters im Revier vorgestellt werden, auch wenn selbst die kleinere Bühne in ihrer Größe fast alle vorigen bespielten Bühnen in die Tasche steckt.

Hedwig and the Angry Inch ist anders. Das Stück kommt mit lediglich zwei Darsteller*innen aus, wovon eine einen Redeanteil von geschätzten 95% erhält und die andere von 5%. Also eigentlich kann man von einem Ein-Mann/Frau-Monolog sprechen. Dazu geht es um eine Transidentität, die gerne eine erfolgreiche Rockmusiker*in wäre und dementsprechend eine fette Band mit auf die Bühne schleppt. Viel mehr kann man eigentlich als Musical kaum anecken und den Großproduktionen von Stage Entertainment & Co. den Mittelfinger entgegenstrecken.

Ist das eine gute Voraussetzung für eine Premiere, bei der die Mehrheit des Publikums wohl Abonnements besitzt und im Durchschnittsalter die 50 überschritten hat? Gewagt. Doch um das gleich vorwegzunehmen: Der Applaus am Ende des Einakters, der 105 Minuten dauert und pünktlich am Samstagabend um 19:30 Uhr beginnt, ist laut. Die Leute sehen auch in den Gesichtern positiv überrascht aus von dem, was sie gerade erleben durften. Queerness ist sowas von Mainstream.

Hedwig, die als Hansel Schmidt in Ostberlin aufwuchs, lässt sich aus Liebe für den Soldaten Luther Ende der 80er umoperieren. Doch der Chirurg hat zu tief ins Glas geschaut und den Weg zur neuen Identität mit seinem Nichtkönnen regelrecht versaut. Hedwig ist seitdem zwischen den Geschlechtern gefangen und erlebt permanente Ablehnung – auch in ihrer neuen Heimat Kansas, wo das Unglück mit einem weiteren Mann seinen Lauf nimmt…

Hedwig and the Angry Inch ist speziell, minimalistisch. Es ist mehr ein Theaterstück, das durch ein Rockkonzert unterbrochen wird und umgekehrt. Musicalgänger*innen, die wechselnde Kulissen gewohnt sind oder wohlklingenden, zweistimmen Gesang mit Kitschszenerie suchen, suchen heute noch. Theaterfreund*innen, denen der Kunstbegriff nicht ganz fremd ist, haben aber leichtes Spiel.

Leider auch ein wenig zu leicht in Gelsenkirchen. Denn ein Stück, das dermaßen wenig Elemente besitzt, muss von vorne bis hinten in allen Details stimmig sein – was bedauerlicherweise nicht hinreichend genug funktioniert. Dabei sind einige Elemente ziemlich gelungen. Allen vorweg die musikalisch super spielende vierköpfige Rockband, zusammengesetzt aus Drums, Bass, E-Gitarre und Keyboard. So lauten Sound gibt’s im Theater nicht alle Tage, passt aber einfach zum Setting. Zusätzlich sehen die Vier auch noch ziemlich Rock’n’Roll aus.

Gleichauf ist die Nebendarstellerin Nina Janke, die als Yitzhak nicht viel zu tun, aber deswegen keinen so leichten Part hat. Einfach stets on point. Besonders gesanglich sorgt Janke für durchschlagende Belting-Momente, die voll sitzen. Doch wie bereits erwähnt, sind 5% eben nur ein kleiner Anteil.

Alex Melcher wurde als Hedwig besetzt. Der 51-jährige ist ein Charakterdarsteller und hat zuletzt in Oberhausen in „Bat out of Hell“ ziemlich geglänzt. Die Rolle war aber auch so angelegt, dass sich ein eher maskulin gelesener Typ schnell wohlfühlt und wenig aus der Komfortzone heraustreten muss. Was den Gesang betrifft, befindet sich Melcher als Hedwig sogar zu stark in der Komfortzone: Er singt zweifelsfrei hervorragend und macht bis auf minimale Ausrutscher alles richtig, dabei könnte er sogar noch viel, viel mehr. Doch die Herausforderung als Hedwig zu spielen liegt eben nicht im Gesang, sondern im Schauspiel – und da ist die Darbietung schweren Herzens eine dicke Spur zu eindimensional.

Die äußerst große Bühne, auf der trotzdem nicht arg viel passiert, führt dazu, dass sich das Geschehen ein wenig verliert. Melcher legt seinen Hedwig als sehr tough, ironisch, stark, fast schon narzisstisch und selbstsicher an – und ja, das ist eine Facette. Nur die wesentlich fragilere, völlig gebrochene, tottraurige und bemitleidenswerte kommt kaum durch. Eine wirkliche Entwicklung ist bis auf eine der finalen Szenen vor einem laufenden Fernseher kaum bemerkbar. Aber genau diese Szene zeigt eben: Wenn es kleiner wird, funktioniert es.

Als Zuschauer*in fühlt man entschieden zu wenig mit. Das unterhält zwar gesanglich enorm, bringt auch einige Male zum Lachen – aber keinesfalls zum Weinen, nicht mal zum Melancholisch-Werden. Schade, denn damit steht und fällt der dramaturgische Kniff des reduzierten Stücks. Obendrein wird es an einigen Stellen auch inszenatorisch ganz schön plakativ (Stichwort: Blut). Auch da wäre weniger mehr. Ziemlich gut: Zwei Songs, die für die Handlung von hoher Wichtigkeit sind, erhalten deutsche Texte, der Rest bleibt im englischen Original. Eine sinnvolle Entscheidung.

Gemischte Eindrücke. Die Basics sind hervorragend. Tolle Band, toller Sound, gute Möglichkeiten und Darsteller*innen mit sehr viel Talent. Aber wahrscheinlich ist Alex Melcher einfach emotional zu weit von dem Gefühl seiner Rolle weg. Richtig was rüber kam nämlich außer starken Tönen leider nicht.

Und so hört sich das an (Audio vom Original Soundtrack des Films):

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Die Rechte fürs Bild liegen bei SASCHA KREKLAU/MUSIKTHEATER IM REVIER.

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