Man merkt, es ist wieder diese bestimmte Zeit des Jahres. So langsam gerät eine gewisse Bubble in völlige Ekstase, die jedoch erst Mitte Mai ihren Höhepunkt findet. Dann nämlich wird der nächste Eurovision Song Contest in Turin stattfinden. Italien hat mit seiner Rockband Måneskin 2021 ziemlich abgesahnt, sodass es diese Saison also in den Süden Europas geht. Mit dabei sein wird auch Lukas Heinser.
Nur Insider werden wissen, von wem hier die Rede ist. Denn obwohl Heinser eine für Deutschland ziemlich wichtige Rolle spielt, ist er nur äußerst selten zu sehen. Heinser sitzt nämlich neben dem beliebten Kultkommentator Peter Urban in der Kabine und mimt seit guten zehn Jahren seinen Assistenten. Das scheint auch zufriedenstellend zu klappen – große Fauxpas gibt’s bekanntlich sehr selten. Lukas ist Fan des ESCs seit Kindesbeinen an und hat somit quasi seinen Traumjob gefunden. Das können nur die Wenigsten von sich behaupten. Seit 2010 – das war das Jahr, in dem Lena für Deutschland den Sieg holte – ist er jedoch weitaus tiefer in der Materie und hat seine Erfahrungen und Eindrücke nun in einem Buch festgehalten.
Aus diesem Buch liest der 38-jährige Bochumer am 23.3., einem Mittwoch, abends in der Zeche Carl in Essen vor. Da der Eurovision immer auf die Sekunde genau startet, muss natürlich also auch hier pünktlich um 20 Uhr zur besten internationalen Sendezeit – hier alles nach mitteleuropäischer Uhrzeit ausgerichtet – der Startschuss fallen. Eingefunden haben sich rund 30 Personen, um Ausschnitte aus dem Ende Februar erschienenen Buch Eurovision Song Contest: Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten kennenzulernen. Zur Einstimmung auf den Abend und auch während der Pause laufen überwiegend Gewinnertitel aus über 60 Jahren ESC. Passt.
Heinsers Programm setzt sich aus zwei Blöcken zusammen. In den ersten 50 Minuten geht es überwiegend um Geschichtliches. Der Autor und Blogger startet beim ersten Jahrgang des größten Musikwettbewerbs der Welt und hangelt sich stationartig durch die Dekaden. Das sollte für diejenigen, die jährlich das große Finale schauen und einfach Spaß am Eurovision haben, genau das Richtige sein. Ein paar skurrile Schmunzler und schickes Funfactwissen, ein paar “Ach stimmt, das hatte ich ja schon wieder völlig verdrängt”-Absurditäten und einiges an Infos über deutsche und kultgewordene Teilnehmer*innen. Allerdings werden Hardcorefans besonders in der ersten Hälfte der Show wohl ein wenig Langeweile hinnehmen müssen, denn für die ist fast der gesamte Vortrag vorhersehbar und ohne Neugewinn.
Überhaupt zum Stichwort Vortrag: Es tut einem fast schon leid, aber Lukas Heinser ist an jenem Abend sichtlich und hörbar alles andere als in Bestform. Er erwähnt zu Anfang, dass er gerade erst eine Coronainfektion hinter sich habe. Der Test zeige negativ, aber wer selbst schon unter dem nervtötenden Virus leiden durfte, weiß, dass sich besonders ein Husten gerne mal noch Wochen ziehen kann. Und so röchelt sich auch Heinser oft angestrengt durch den Abend, wodurch der Lesefluss etwas holprig kommt. Man merkt, dass er sich nicht auf ganz typischem Terrain bewegt und es wohl einer der ersten Abende überhaupt dieser Art für ihn ist.
Die 60-minütige Runde Zwei verläuft hingegen in anderen Bahnen. Neben dem Vorlesen zeigt Heinser auch stets witzige Videos, die auch die geheimen Highlights des Abends sind, in denen man ihn in unterschiedlichen Eurovision-Situationen erlebt, ihn beim Interview mit u.a. Ralph Siegel beobachten kann und es einfach schicke Einblicke hinter die Kulissen gibt. Das ist wahrhaftig auch die Stärke des Buches – nämlich immer dann, wenn es nicht darum geht, bloße Fakten über den ESC wiederzugeben oder Statistiken aufzufächern, sondern ganz persönliche Eindrücke zu bekommen. So ist der zweite Block der Lesung hauptsächlich autobiografisch, subjektiv und dadurch auch aufregender.
Ein wirklich spannendes Special zeigt sich ganz am Ende. Wer mit Peter Urban so dicke ist, kann natürlich auch gekonnt diese Karte spielen: Lukas hat einen Abend zuvor ein Interview mit Peter geführt, was er nun zeigt. Darin begrüßt Urban auch das Essener Publikum. Zusätzlich hat Urban für die Show ein Intro eingesprochen und fürs Buch ein Vorwort geschrieben. Man merkt, die Zwei sind Buddys. Das kommt sehr vertraut und spannend rüber. Gerne mehr davon. Im Gegensatz dazu: Gerne weniger Gesang. Heinser scheint zwar super gern Guitalele zu spielen und dazu Eurovision-Classics zu singen – allerdings wirken die insgesamt viermal eingeschobenen Gesangsperformances (u.a. “Ein bisschen Frieden” und “Ein Lied kann eine Brücke sein”) alle ein wenig fremdschämig, da Heinser weder der beste Gitarrist und noch viel weniger ein guter Sänger ist. Ist das einfach lustig gemeint? Dann kommt es nicht eindeutig rüber. Ist es ernst gemeint? Dann, well…
Lukas Heinser ist Eurovision-Fachmann, das steht außer Frage. Von Anfang bis Ende wirkt er hervorragend informiert und tief in der Materie drin. Allerdings ist die Art, wie er seine Lesung hält, noch ausbaufähig – sowohl im Vortrag als auch im Drumherum. Schön wäre gewesen, wenn das Buch einen klareren Fokus gehabt hätte. Da es aber bereits unzählige Werke über den Eurovision gibt, um darin über sechs Dekaden Wettbewerb zu schmökern, machen doch besonders die persönlichen Geschichten darüber, was eigentlich alles so vor, während und nach der Show passiert, aber fürs Auge zuhause unsichtbar bleibt, die Reißer.
Hier der offizielle Trailer zum Buch:
Foto von Christopher Filipecki.
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