Seit wenigen Tagen steht offiziell fest: Der Festival- und Konzertesommer 2020 ist im Eimer. In Deutschland ist bis zum letzten Tag des Augusts keine Großveranstaltung erlaubt. Bekanntlich sind die Festivals, die zeitlich danach laufen, in der Anzahl überschaubar – und ob sie dann überhaupt stattfinden dürfen, ist genauso riskant und fraglich.
Doch so langsam hat sich wohl jeder an die völlig absurde, angsteinflößende, traurige und merkwürdige Lage während der Covid19-Pandemie gewöhnt und stückweise damit arrangiert. Gerade in solchen Notlagen ist für die Freizeitgestaltung Kreativität gefordert. Weil Kulturbesuche nahezu komplett wegfallen und erst in den nächsten Tagen wieder peu à peu möglich werden, kommt stattdessen immer mehr Kultur ins heimische Wohnzimmer. Erst jetzt wird die moderne Technik, die eigentlich schon seit Jahren zur Verfügung steht, vollends ausgenutzt und damit Konzerte einfach per Stream veranstaltet. Das ist zwar nur ein kleiner Trost und selbstverständlich nicht in Ansätzen das Gleiche – allein zu singen, zu tanzen, sich zu betrinken, dabei Merch zu tragen oder auch Selbstgespräche zu führen, ist eben etwas weird – doch immer noch besser als gar nix.
Genau diese Idee wurde nun wohl vorerst auf die Spitze getrieben. Das Angebot an streamfähigen Konzerten war in den letzten Wochen unüberschaubar. In der Nacht von Samstag, dem 18.04.2020, auf Sonntag, dem 19.04.2020, sind jedoch einfach sämtliche Auftritte zusammengelegt und damit das erste weltweit stattfindende Streamingfestival bereit: One World – Together At Home hätte mit dem Staraufgebot wohl auf keiner Bühne umgesetzt werden können und zeigt somit die positiven Seiten der Globalisierung auf.
Der Kampagnenverband Global Citizen hat sich seit seiner Gründung 2008 vorgenommen, die größten Defizite in den Bereichen Trinkwasser und Essen, Frauenrechte, Gesundheit, Bildung und Entwicklung auszugleichen. Demnach ist auch die mit dem Coronavirus einhergehende Problematik ein zu behandelndes Themengebiet. Um allen Arbeitern, die während der Pandemie weiterhin ihre Jobs ausführen müssen und damit der breiten Menschheit helfen, zu danken und ihr Tun zu würdigen, aber auch um noch detaillierter auf die Problematik einzugehen und alltägliche Tipps zu geben, wurde One World ins Leben gerufen und durch niemand geringeren als Lady GaGa mitorganisiert. Sie ist das Aushängeschild des insgesamt acht-stündigen Specials, das auf nahezu jedem wichtigen TV- und Onlinesender zu sehen ist: in den USA läuft es parallel auf NBC, CBS, BBC und ABC, weltweit ist es verfügbar via Youtube, Twitter, Facebook, Amazon Prime und bei uns sogar noch zusätzlich auf RTL, TVNow und MagentaMusik360 von der Telekom.
Wenn sich so viele Plattformen um die Show reißen, müssen Einfluss und Umfang immens sein. Tatsächlich handelt es sich womöglich auch um die wichtigste Benefizveranstaltung seit Live Aid (1985). Mit Corona ist erstmalig ein Thema im Raum, das vor niemandem Halt macht. Egal, welchen Wohlstand, welches Alter, welches Geschlecht, welche Religion oder Sexualität man besitzt – sicher ist niemand. Genau dieser Aspekt des gemeinsamen Leidens und des gemeinsamen „An einem Strang-Ziehens“ wird in der Megashow immer wieder betont. Kaum ein Land ist virenfrei, innerhalb weniger Wochen hat es sich auf dem fast gesamten Planeten verbreitet und bereits unzählige Opfer gefordert. One World zeigt geschätzt zu einem Drittel Szenen aus der kürzlich vergangenen Zeit. Es werden Krankenhäuser vorgestellt, unzählige Ärzte, Pfleger, Virologen – aber auch alltägliche Szenen von gemeinschaftlichen Sport-Sessions auf Balkonen und Menschen, die an Fenstern musizieren. Besonders treffend sind Momente, in denen Eltern ihre Säuglinge erstmalig den Großeltern zeigen. Zwischen ihnen befindet sich Glas, eine Berührung ist nicht möglich.
Augenblicke, die jeder in dieser oder anderen Form erlebt hat. One World probiert nur subtil mit der Empathie der Zuschauer zu spielen. Es wird zwar pausenlos auf die Seite von Global Citizen hingewiesen, um sich zu informieren – direkt wird für Spenden jedoch nicht aufgerufen. Diese kommen trotzdem rein. Am Ende des Spektakels sind 127 Millionen Dollar eingegangen, die direkt an die WHO (World Health Organization) gehen, um weitere Präventionsmaßnahmen, insbesondere einen Impfstoff schneller zu entwickeln. Somit bekommt ein jeder von uns einen Teil des Geldes zurück. Auf diese Notwendigkeit weisen unzählige Stars hin, darunter Heidi Klum, Pierce Brosnan, Beyoncé, Matthew McConaughey, Matt Bomer, Oprah Winfrey, Ellen DeGeneres, Jack Black, Alicia Keys, Samuel L Jackson, Lupita Nyong‘O oder Usher. Sogar zwei Ex-First Ladies rufen auf. Michelle Obama und Laura Bush liegt die Aktion ebenso am Herzen. Lediglich der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten, Donald Trump, wird in der Show bis auf einen nur wenige Sekunden andauernden Ausschnitt komplett ausgespart. Er hatte sich erst kürzlich gegen weitere finanzielle Unterstützungen in die WHO ausgesprochen.
Das Augenmerk liegt trotzdem auf das schwindelerregende musikalische Aufgebot. Das Warm-Up startet nach deutscher Zeit um 20 Uhr und endet um 2 Uhr morgens. In diesen sechs Stunden wird für das anschließende zwei Stunden dauernde Hauptprogramm angeheizt. Ein Aufwärmen, das in sich schon mehr Material bietet als unzählige Festivals am gesamten Wochenende. Das Opening macht Andra Day mit ihrem 2015 erschienenen Insider-Hit „Rise Up“, der quasi als Motto für die gesamte Show herhält: über sich hinauswachsen, es jeden Tag aufs Neue probieren, Mut sammeln und für andere da sein. Gänsehaut nach wenigen Minuten. Daraufhin feuert One World jedoch ohne Verschnaufpause und Werbeunterbrechung ein absolutes Hitfeuerwerk aus den unterschiedlichsten privaten Locations namenreicher Topstars ab. Viele treten mit ihrem größten Erfolg oder einem thematisch passenden eigenen oder Coversong auf, andere dürfen sogar zweimal. Nur ein paar Beispiele: Adam Lambert („Mad World“, „Superpower“), The Killers („Mr. Brightside“), Ellie Goulding („Love Me Like You Do“, „Burn“), Delta Goodrem („Together We Are One“), Annie Lennox („There Must Be An Angel“), Jessie J („Flashlight“, „Bang Bang“), Rita Ora („I Will Never Let You Down“), Hozier („Take Me To Church“), Kesha („Praying“), Jennifer Hudson („Memory“, „Hallelujah“), Lady Antebellum („What I’m Leaving For“), Liam Payne („Midnight“), Niall Horan („Black & White“). Obendrauf nationale Größen aus den unterschiedlichsten Ländern wie Zucchero (Italien, „Everybody’s Gotta Learn Sometime“), SuperM (Korea, „With You“), Jacky Cheung (Hongkong, „Touch Of Love“) und als einziger deutscher Act Milky Chance („Stolen Dance“). Dazwischen gibt es die Möglichkeit noch etwas unbekanntere Acts zu entdecken, zum Beispiel Christine And The Queens („People I’ve Been Sad“), Sofi Tukker („Drinkee“) oder Angèle („Balance Ton Quoi“). Es muss nochmal betont werden, dass diese und noch unzählige weitere Künstler lediglich als Vorband an dem Abend fungieren.
Die eigentliche Sendung, die nach deutscher Zeit zwischen 2 Uhr und 4 Uhr am Sonntagmorgen zu sehen ist und nun doch einige Male mit kurzen Unterbrechungen läuft, ist konzeptionell wenig anders – nur bei der Besetzung wird nochmal ordentlich was draufgesetzt. Moderiert von den wohl beliebtesten Hosts der USA, Jimmy Kimmel, Jimmy Fallon und Stephen Colbert, präsentiert von Lady GaGa. Da müssen Knaller folgen. Auch hier nur eine Auswahl: Elton John („I’m Still Standing“), Rolling Stones („You Can’t Always Get What You Want“), Taylor Swift („Soon You’ll Get Better“), Billie Joe Armstrong von Green Day („Wake Me Up When September Ends“), John Legend im Duett mit Sam Smith („Stand By Me“), Billie Eilish mit ihrem Bruder Finneas („Sunny“), Paul McCartney („Lady Madonna“), Jennifer Lopez („People“), Stevie Wonder („Lean On Me“, „Love’s In Need Of Love Today“) und natürlich Lady GaGa persönlich („Smile“), die sich ansonsten aber sympathisch wenig auffällig im Hintergrund verhält. Zum Finale gibt es John Legend, Lady GaGa, Céline Dion und Andrea Bocelli begleitet von dem womöglich erfolgreichsten Pianisten der Welt, Lang Lang („The Prayer“). Was soll man dazu noch sagen?
One World fühlt sich ein Stück nach geschichtlichem Ereignis an und bietet ein schier unfassbares Aufgebot an Künstlern, das zeigt, dass jeder sich dazu verpflichtet fühlt, einen Teil beizutragen und wir trotz riesiger Entfernung ein Stück weit verbunden sind. Zwar sind nicht alle Auftritte komplett live gesungen, manche Soundqualitäten etwas schrömmelig und einige Topsänger nur mit einer Rede vertreten. Außerdem wurden wohl Kleinigkeiten im Line-Up noch kurzfristig verändert, stand u.a. Alanis Morissette anfangs der Woche noch angepriesen. Ob John Legend im Laufe des Abends gleich viermal zu singen hat, ist auch fragwürdig, aber das ist wirklich Meckern auf allerhöchstem Niveau. Bei acht Stunden Programm ist Durchhaltevermögen gefragt, aber dank kurzweiligen, sehr unterhaltsamen Inhalten und unzähligen Überraschungsmomenten, vergehen die 480 Minuten doch vergleichsweise schnell – oder nehmen wir uns während der Coronaphase einfach für Dinge mehr Zeit? Kleine Schmunzler bieten Videos, in denen Spongebob bzw. Wrestling-Stars das richtige Händewaschen vormachen oder Jimmy Fallon und seine Band The Roots den „Safety Dance“ zocken. Wer trotzdem nicht das komplette Programm schauen möchte, dem seien zumindest die musikalisch extrem gelungenen Auftritte von Adam Lambert, Jessie J, Jennifer Hudson, John Legend & Sam Smith oder Lady GaGa empfohlen. Und locker noch 20 mehr. Es gilt aktuell eh weiterhin: Stay home, stay safe, stay healthy und guckt innerhalb der nächsten Tage dieses Spektakel, solange es noch online verfügbar ist!
Und so sah das aus:
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