Die Würfel sind gefallen – das Ergebnis steht fest! In der Nacht von dem 12. auf den 13.5. ist um 0:39 klar, dass Netta aus Israel mit ihrem feministischen Song “Toy” den Sieg geholt hat. Israel gewinnt damit nach 1978, 1979 und 1998 das vierte Mal und darf 20 Jahre nach dem ersten transsexuellen Sieger Dana International die Show ins Land zurückholen. Damit lag minutenmusik von Anfang an Gold richtig und hatte mit Israel den gleichen Favoriten.
Parallel dazu sind auch die anderen Platzierungen fix. Ausnahmsweise muss man gar nicht soweit suchen, bis man auf das deutsche Ergebnis trifft: Tatsächlich schafft Michael Schulte mit seiner Pianoballade “You Let Me Walk Alone” einen unglaublichen vierten Platz. Der Song, der an seinen verstorbenen Vater gerichtet ist, hat gleich viermal die vollen zwölf Punkte der internationalen Jurys erhalten (Niederlande, Dänemark, Norwegen, Schweiz) – nur zwölf der 42 Länder, die Punkte an Deutschland vergeben konnten, gaben keinen einzigen. Damit erreicht Schulte mit 340 Punkten (nur zwei Punkte weniger als der Drittplatzierte) das beste Ergebnis seit Lenas Gewinn 2010.
Hier alle Platzierungen im Überblick:
- Israel: “Toy”, Netta (212 Jury-Punkte, 317 Zuschauer-Punkte, 529 gesamt)
- Zypern: “Fuego”, Eleni Foureira (183 Jury, 253 Zuschauer, 436 gesamt)
- Österreich: “Nothing But You”, Cesár Sampson (271 Jury, 71 Zuschauer, 342 gesamt)
- Deutschland: “You Let Me Walk Alone”, Michael Schulte (204 Jury, 136 Zuschauer, 340 gesamt)
- Italien: “Non Mi Avete Fatto Niente”, Ermal Meta & Fabrizio Moro (59 Jury, 249 Zuschauer, 308 gesamt)
- Tschechien: “Lie To Me”, Mikolas Josef (66 Jury, 215 Zuschauer, 281 gesamt)
- Schweden: “Dance You Off”, Benjamin Ingrosso (253 Jury, 21 Zuschauer, 274 gesamt)
- Estland: “La Forza”, Elina Netsajeva (143 Jury, 102 Zuschauer, 245 gesamt)
- Dänemark: “Higher Ground”, Rasmussen (38 Jury, 188 Zuschauer, 226 gesamt)
- Moldawien: “My Lucky Day”, DoReDoS (94 Jury, 115 Zuschauer, 209 gesamt)
- Albanien: “Mall”, Eugent Bushpepa (126 Jury, 58 Zuschauer, 184 gesamt)
- Litauen: “When We’re Old”, Ieva Zasimauskaité (90 Jury, 91 Zuschauer, 181 gesamt)
- Frankreich: “Mercy”, Madame Monsieur (114 Jury, 59 Zuschauer, 173 gesamt)
- Bulgarien: “Bones”, Equinox (100 Jury, 66 Zuschauer, 166 gesamt)
- Norwegen: “That’s How You Write A Song”, Alexander Rybak (60 Jury, 84 Zuschauer, 144 gesamt)
- Irland: “Together”, Ryan O’Shaughnessy (74 Jury, 62 Zuschauer, 136 gesamt)
- Ukraine: “Under The Ladder”, MELOVIN (11 Jury, 119 Zuschauer, 130 gesamt)
- Niederlande: “Outlaw In ‘Em”, Waylon (89 Jury, 32 Zuschauer, 121 gesamt)
- Serbien: “Nova Deca”, Sanja Ilic & Balkanika (38 Jury, 75 Zuschauer, 113 gesamt)
- Australien: “We Got Love”, Jessica Mauboy (90 Jury, neun Zuschauer, 99 gesamt)
- Ungarn: “Viszlát Nyár”, AWS (28 Jury, 65 Zuschauer, 93 gesamt)
- Slowenien: “Hvala, Ne!”, Lea Sirk (41 Jury, 23 Zuschauer, 63 gesamt)
- Spanien: “Tu Canción”, Alfred y Amaia (43 Jury, 18 Zuschauer, 61 gesamt)
- Großbritannien: “Storm”, SuRie (23 Jury, 25 Zuschauer, 48 gesamt)
- Finnland: “Monsters”, Saara Aalto (23 Jury, 23 Zuschauer, 46 gesamt)
- Portugal: “O Jardim”, Cláudia Pascoal (21 Jury, 18 Zuschauer, 39 gesamt)
NACHLESE ZUR SHOW:
Irgendwie ist das ESC-Jahr 2018 ein wenig verrückt: einige tolle Songs schaffen nicht mal den Einzug ins Finale, weil sie gesanglich in den Halbfinalshows alles gegen die Wand gefahren haben – andererseits gibt es erstmalig keinen klaren Favoriten. Stattdessen wird sich sowohl auf Juryseite, als auch in den Wettbüros und bei Social Media-Plattformen lauthals gestritten. Jeder hat seinen eigenen Kopf und sieht einen anderen Beitrag als Sieger. Zypern stellt sich bei den Buchmachern als Sieger heraus – wer hier kurz vor Showbeginn noch wettet, hat kaum eine Möglichkeit, Geld herauszubekommen, da sich fast alle einig sind. Israel cruist bereits seit Wochen als möglicher Gewinner durchs Internet und darf mit den besten Klickzahlen ins letzte Rennen. Schweden geht ja eh immer und kann mit einem modernen Hit auf internationalem Chartniveau womöglich gut punkten. Irland ist das erste Mal seit Ewigkeiten eventueller Sieger – die Kombination aus emotionaler Akustikballade und Homo-Tanzpärchen dürfte doch ziehen. Aber selbst der Gastgeber Portugal könnte mit seiner kaum eingängigen, leicht mystischen Nummer als möglicher erster Platz den Abend verlassen.
So viel wurde im Voraus gemunkelt. Meistens sind Events wie der ESC nicht 100% berechenbar, aber trotzdem darf auf Kritikerstimmen gern gehört werden. Es gibt Songs, bei denen klar ist, dass sie Chancen haben, europaweit (und in Australien) zu landen – und es gibt eben Songs, die so genreorientiert funktionieren, langweilen oder zu beliebig klingen, dass das sowieso nix wird. 2018 ist das mit den sieben oder acht Publikumslieblingen eben anders und macht das Finale ganz besonders spannend. Ja, es gab wenige wirkliche musikalische Highlights – ebenso aber auch wenige Lowlights. Aber ein breites Mittelfeld muss sich ebenso auf 26 Plätze verteilen und wie das dann letztendlich aussieht, weiß keiner so ganz genau.
Die vier Moderatorinnen haben offensichtlich nach ihren zwei Semifinalshows nochmal Energie getankt und funktionieren untereinander als auch im Umgang mit den Teilnehmern besser. Einige Witze funktionieren gut, man schämt sich immerhin nicht fremd und kommt angenehm durch die kurzen Umbauphasen. Trotzdem bleibt die schwedische Moderation aus 2016 das Maß der Dinge.
Die Auftritte gehen größtenteils sorglos über die Bühne. Hier wird tief in die Trickkiste gegriffen. Tatsächlich gab es noch nie so viel Feuerwerk und Pyro wie in diesem Jahr. Das hat man auch gesehen. Dazu gibt es Typen aus der Ukraine, die aus Klavieren hervorkommen wie aus einem Sarg, ein Kleid das geschätzt einen Durchmesser von 10m vorweist und leuchtet aus Estland, einen zypriotischen Beyoncé-Verschnitt, japanische Winkekatzen gepaart mit der israelischen Sängerin und richtige Metalmucke aus Ungarn. So ist Vielfalt, so bunt ist Europa, so ist der Eurovision Song Contest.
“Größtenteils sorglos über die Bühne” ist aber nun mal nicht “komplett sorglos”. Ein Flitzer taucht immer mal wieder bei solchen Veranstaltungen auf und sorgt für eine Kombination aus Schockmoment und Gelächter. Wegen viel zu vieler sorgenvoller Momente der letzten Jahre, ist leider das erste Impulsgefühl, wenn solche Momente passieren, häufig mit Angst erfüllt. SuRie aus Großbritannien musste als neunte Teilnehmerin genau mit dieser Situation umgehen. Der ungebetene Gast, der in der Mitte ihres Songs vor ihr auftaucht, reißt ihr das Mikro aus der Hand und nennt die Worte “For the nazis of the UK media, we demand freedom”. Der Herr ist kein Unbekannter und bereits mehrmals mit ähnlichen Aktionen aufgefallen. SuRie steht knappe 15 Sekunden ohne Mikro auf der Bühne, klatscht im Rhythmus mit, der Backgroundgesang läuft weiter – dann hat sie es zurück und legt dynamisch noch mal einen drauf. Die Sängerin gibt voller Elan und sichtlich gepusht alles, verweigert sogar die Option, den Song am Ende erneut zu singen, um ihre Leistung zu verbessern. Sie ist mit ihrem Auftritt zufrieden – ob sie dies nun auch mit dem 24. Platz ist?
Ein erfreulicher und gleichzeitig emotionaler Moment geschieht zum Ende des Votings, als Salvador Sobral die Bühne betritt. Der Mann, dessen positives Verschulden der Grund ist, warum der Wettbewerb dieses Jahr in Portugal stattfinden darf, ist das erste Mal nach seiner Herztransplantation auf der Bühne. Zwischenzeitlich sah es für den 28-jährigen äußerst kritisch aus. Ein Glück, dass er die Kurve bekam und nun mit gleicher Fragilität wie letztes Jahr seinen neuen Song “Mano A Mano” und im Anschluss im Duett mit einem der einflussreichsten Sänger Portugals, Caetano Veloso, seinen Siegertitel “Amar Pelos Dois” performt. So sehen wahre – Achtung, der kommt flach – Sieger der Herzen aus. Möge es ihm schnell noch besser gehen!
Der ganz große Wurf folgt aber tatsächlich beim ESC ’18 erst nach dem Auftritt. Zum dritten Mal in Folge werden die Punkte der Jurys und der Zuschauer getrennt vergeben – damit verdoppelt sich die mögliche Endpunktzahl und angeblich soll dazu noch die Spannung erhöht werden. Tatsächlich hat dieses System bereits beim ersten Durchgang dazu geführt, dass die Ukraine gewonnen hat, obwohl sie in beiden Votings nur den zweiten Platz belegt hat und nach früherem Prinzip nicht gewonnen hätte. Australien hatte zwar 2016 bei der Jury die Nase vorn, wurde von den Zuschauern aber nur auf Platz vier gewählt. Russland genau umgekehrt: Die Jury setzte den Sänger auf den fünften Rang, die Zuschauer auf den ersten. Das ergab das Gesamtergebnis, dass die Ukraine gewann, Australien zweiter und Russland dritter wurde. Letztes Jahr war das Ganze schon einfacher: Portugal durfte einfach bei beiden Votings als Sieger herausgehen!
Wie läuft das Prozedere denn nun ab seit der Neueinführung? Zunächst darf die jeweils fünfköpfige Jury aus jedem Land Punkte vergeben – und zwar nach altem Prinzip: ein Punkt, zwei, drei, vier, fünf, sechs, acht, zehn und zwölf Punkte für die zehn favorisierten Beiträge. Live vorgelesen wird nur noch das Topergebnis, also die zwölf. Vorher gab es immer die acht, zehn und zwölf Punktevergabe von einem Landesvertreter live im TV. Dieses Jahr durfte für Deutschland erneut Barbara Schöneberger die Punktefee spielen, die sowohl das Warm-Up von der Reeperbahn in Hamburg als auch die Aftershowparty moderiert. Darüber legen wir gekonnt den Mantel des Schweigens. Die deutsche Jury (bestehend aus Mary Roos, Lotte, Max Giesinger, Mike Singer, Sascha Stadler – Mantel des Schweigens, die Zweite) sieht Schweden als Gewinner und gibt somit die Höchstpunktzahl zu den skandinavischen ESC-Pionieren. Die restlichen 15 Länder gehen nach altem Konzept auch heute leer aus. Das führte in den letzten Jahren gehäuft dazu, dass Deutschland letzter wurde, obwohl es in keinem Ranking den letzten Platz belegte. Aber zig Mal Platz 11 heißt leider genauso null Punkte wie zig mal letzter Platz. So ist das Spiel.
Bereits nach wenigen Punktevergaben wird deutlich, dass hier einfach mal gar nichts deutlich wird. Mindestens sieben Länder wechseln sich an der Tabellenspitze ab – jedes einzelne Ergebnis stellt alles auf den Kopf. Israel oben, dann Zypern, dann ganz lange Österreich, zwischenzeitlich sogar Deutschland, Schweden – was ist hier los? Das gibt es doch sonst nie!? Kein Juryergebnis gleicht dem nächsten, was dazu führt, dass die Spannung schon nach kurzen Minuten enorm nach oben fährt und die eher unspannenden musikalischen Beiträge vergessen lässt. Nachdem alle 43 Länder (auch die 17 Staaten, die in den Semifinalrunden ausgeschieden sind) ihre Punkte vorgelesen haben, sieht die Top 5 so aus: 1) Österreich, 2) Schweden, 3) Israel, 4) Deutschland, 5) Zypern. Die Buchmacher sehen schon schwarz.
Doch 50% der Punkte sind eben noch längst nicht alles. Stattdessen werden nun von der Moderation die Punkte vorgelesen – allerdings in einem nicht ganz einfachen Verfahren: jetzt wird nicht gesagt, welches Land die zwölf von welchen Anrufern kassiert. Stattdessen werden alle Punkte für jedes Land zusammengerechnet und das Land mit den wenigsten Anrufen insgesamt als erstes genannt (Beispiel: Deutschland bekommt insgesamt aus fünf Ländern Punkte: zweimal drei, dreimal vier. Damit bekommt Deutschland 18 Punkte und wird vorgelesen, nachdem die Länder mit weniger als 18 Punkten genannt wurden). Mit traurigen neun Punkten ist Australien hochgerechnet das Land mit den wenigsten Zuschaueranrufen und fällt letztendlich von Platz zwölf auf die 20. Sorry, aber das kam mal gar nicht an! Wie minutenmusik bereits vermutete, ist “We Got Love” der schlechteste australische Beitrag bis dato. Doch Kopf hoch: 2016 bekam Tschechien und 2017 Österreich peinliche null Punkte. Down Under, ihr könnt das vertragen! Ob allerdings Portugal als Gastgeberland den letzten Finalplatz ertragen kann, steht auf einem anderen Blatt… verdient war es unserer Meinung nach nicht! Aber auch das erging Österreich nach dem Sieg von Conchita Wurst als ausführender Staat 2015 genauso.
Deutschland schafft sogar im Zuschauervorting einen wirklich grandiosen sechsten Platz. Da Österreich bei den Anrufern nur Platz 13 erreicht, ist Michael Schulte letztendlich zwar nicht auf dem Siegertreppchen, mit Platz vier aber dennoch weit oben. Cesár Sampson tauscht am Ende Gold gegen Bronze. Da lag minutenmusik mal völlig daneben: Österreich juckte uns quasi gar nicht und kam über ein “Ganz Ok” für uns nicht hinaus – und Schulte schaffte mit seiner Pianoballade “You Let Me Walk Alone” das erste Mal nach fünf Endergebnissen im letzten Drittel sogar den Sprung in die Top 5. Lenas Sieg mal ausgenommen geschah das zuletzt 2000 mit Stefan Raab und “Wadde Hadde Dudde Da”. Schulte hatte Glück, dass es dieses Jahr keine einzige Pianoballade gab, wählte dazu mit seinem emotionalen, familiären Thema die passende Grundlage für Empathie, sang passabel und wurde mit einer schlichten Präsentation auf der Videowand unterstützt. Das hat gereicht und setzte gute Kontraste zum überfrachteten Kawumm-ESC.
Und dann folgte die letzte Entscheidung: Zypern oder Israel? Italien schaffte mit einem starken dritten Platz bei den Zuschauern den großen Sprung vom 17. Juryplatz auf einen finalen fünften, war aber hiermit auch keine Konkurrenz mehr für die beiden Buchmacherfavoriten war. Am Ende setzte der ESC zum Motto “All Aboard!” auf Vielfalt und Individualität: WM-Hymne “Fuego” bekommt Silber – Electro-Pop mit Chicken-Beatboxing namens “Toy” aus Israel Gold. Netta ist der Grund, warum der Eurovision Song Contest 2019 in Israel stattfinden wird. Die Sängerin, die irgendwo zwischen Beth Ditto und Björk anzusiedeln ist, erlangte mit ihrem Ohrwurmrefrain und ihrer selbstbewussten Rolle als Superwoman das, was sie wollte. Sie bedankte sich mehrfach dafür, dass Andersartigkeit gewählt und akzeptiert wurde. Ein Element, das beim ESC noch nie zu verachten war. Gut so.
Und so sah der Gewinnerauftritt aus:
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