Hair – The Musical, Philharmonie Köln, 30.07.2019

50 Jahre Hair. Für die einen ein Grund, um in Nostalgie zu schwelgen – für den Großteil wohl eher unbedeutend. Musicals, die so viele Jahre auf dem Buckel haben, gelten natürlich nicht zu Unrecht als Klassiker ihrer Gattung, haben es aber trotzdem schwer, weiterhin ein großes Publikum anzusprechen. Zu angestaubt die Musik und zu wenig modern die Story. Zumeist hat man das Stück auch einfach viel zu oft gesehen – als trutschige Produktion im Kleinkunsttheater nebenan. Doch wenn ein so dickes Jubiläum ansteht, darf man durchaus probieren, so etwas Old Schooliges schmackhaft zu gestalten und womöglich sogar neue Fans zu akquirieren.

Genau das versucht die bereits mit Preisen überhäufte englische Neuproduktion zu erreichen. Und wir können sagen: hat richtig gut funktioniert! Sechs Tage lang darf in der Kölner Philharmonie die Show aufgeführt werden und schafft es mit der exakt passenden Mischung aus Bekanntem und Unerwartetem dem eher mittelprächtigen Material Hair mehr als das Maximum zu entlocken.

BB Promotion macht abermals alles richtig und holt ein Musical auf die Bühne, das in so hochkarätiger Ausführung einfach viel zu selten bei uns läuft. Wie bereits oben angedeutet: Hair ist gefühlt jeden Tag zu sehen. Gespielt von Schul-AGs, Studentengruppen und semiprofessionellen Ensembles. Ein Stück, das auch mit wenig Aufwand funktionieren kann, aber auch gerne vielen ein wenig ausgelutscht erscheinen mag, weil eben zig Mal gesehen. Umso schöner ist es, dass es sich hierbei, wie BB Promotion es mittlerweile sehr häufig macht, um das englische Original handelt, bei dem hochkarätige Darsteller vom Londoner West End mitwirken und eben keine Laien.

Und das fällt auf: bereits beim Einlass blickt der Zuschauer auf einen riesigen knallbunten Vorhang, auf dem der Schriftzug, einige Zitate und bunte Symbole stehen. Der leicht transparente Stoff deutet es schon an – dahinter verbirgt sich ein eyepoppiges Bühnenbild. Pünktlich geht das Licht aus, das Intro mit einem brummenden Bass spielt und lässt den schicken, leicht runden Zuschauerraum erbeben. Politische Messages hallen über die Boxen und parallel dazu betreten die durch die Gänge schreitenden Darsteller die Bühne. Ein wahrer Musicaldauerbrenner-Song fängt an, die Cast verschwindet hinter den Vorhang. „Aquarius“ ist und bleibt eine perfekte Komposition und hat mittlerweile fünf Jahrzehnte überlebt. Dann folgt der Refrain des Songs und der Vorhang soll fallen – tut er aber nicht. Stattdessen kommt ein Crewmitglied auf die Bühne und bricht ab. Die Musik geht aus. Das Publikum bleibt ratlos zurück.

Eine Durchsage, dass aus technischen Gründen die Show ein wenig verzögert starten muss. Letztendlich handelt es sich um eine gut zehn-minütige Verspätung. Das Licht geht erneut aus, die Darsteller starten diesmal direkt hinter dem Vorhang, der nun auch fällt – fortan passieren keine auffallenden Aussetzer mehr.

Damit haben die Zuschauer auch großes Glück. Es wäre eine Schande gewesen, diese Show wegen technischer Schwierigkeiten nicht sehen zu dürfen. Überraschenderweise gibt es fast nichts, was nicht das Merkmal „sehr gut“ verdient hätte. Fangen wir bei der Bühne an: bunte Bänder verzieren die hohe Stage, die bis an die Decke reichen. Auf dem Boden sehen wir künstlichen Rasen und einen Boden, der es den Tänzern ermöglicht, sich barfuß zu bewegen. Im Hintergrund gibt es eine fünfköpfige Band mit typischer Instrumentierung, die sich mit auf der Bühne befindet. Manche Instrumentalisten sitzen auf Baumstämmen, andere in kleinen Holzhütten, die ein wenig höher gelegen sind.

Das Setting selbst bleibt das Stück über nahezu unverändert – dafür kommen aber gefühlt 100 Requisiten hinzu, die aus jedem Song etwas Individuelles hervorlocken. Den Intendanten und Regisseuren muss klar gewesen sein, dass Hair nicht das spektakulärste Stück ist und eine Frischzellenkur benötigt. Doch wenn man mal etwas genauer nachdenkt, ist das Gefühl, politisch im Kollektiv etwas verändern zu können und sich gegen die Gesellschaft auflegen zu wollen, dank der aktuellen „Fridays for Future“-Bewegung gar nicht so weit weg. Kommt Hair also vielleicht doch gerade richtig? So oder so wurde sich gut überlegt, wie über eine etwas dünne Story geschickt hinweggesehen werden kann. Als Lösung wurde gefunden: mit Charme und Abwechslung.

Ob Regenschirme, riesige Laken, Springseile – alles, was irgendwie verwendet werden kann, wird auch verwendet. Durch Hilfe von angenehmen Lichtern, Nebel und Schnee kann in wenigen Sekunden die darzustellende Jahreszeit und Stimmung erzeugt werden. Die Darsteller sind alle hervorragend gecastet und geben dem (im wahrsten Sinne des Wortes) bunten Treiben eine leicht durchgeknallte, aber dennoch äußerst sympathische Note. Gesanglich liefert hier jeder total ab, ganz besonders Aiesha Pease darf mehrmals für Gänsehaut sorgen, Jake Quickenden für passende Lacher. Schön, dass ähnlich wie im Original kein homogenes Bild bei den Darstellern entsteht, sondern optisch alles vertreten ist, was möglich scheint – jede Hautfarbe, jeder Körpertyp.

Mehrmals wird das Publikum eingebunden, auch mal angefasst und sogar zum Mittanzen auf der Bühne aufgefordert. Die Choreografien sind aufwendig und abwechslungsreich, sodass von der Cast einiges abverlangt wird. Das Timing stimmt jedoch immer. Zwischenzeitlich wird es so mitreißend, dass das Publikum bereits in der knapp 70 Minuten dauernden ersten Hälfte des Stücks beim Applaus grölt und von der Laune angesteckt wird.

Besonders löblich: Hair 2019 hat Edge! Hier wird auf der Bühne mehrmals der Joint herumgereicht, hier wird unverblümt und im hohen Maße das Wort „Fuck“ benutzt, hier werden homo-, bi- und heterosexuelle Fantasien freigelassen – und nackte Tatsachen gezeigt. Genau so soll es sein. Wenn schon, dann konsequent. Das Stück ist stets over the top, nimmt sich selbst nicht zu ernst, fährt aber in Sachen „Stilmittel“ voll auf. Danke für den Mut!

Auch in der Musik entschied man sich für den Mittelweg. In den Gesangsparts ist man nah am Original geblieben, im Arrangement bewegt man sich auch mal etwas vom Original weg. Erfrischt und bringt auch Fans, die die Titel alle oft gehört haben dazu, aufzupassen. Highlights sind neben dem starken „Aquarius“ besonders „I Got Life“, „Good Morning Starshine” und der Titelsong.

Mit der aktuell in Köln laufenden Produktion hat sich Hair selbst übertroffen: raus aus der Mottenkiste und mal eben schnell an vielen anderen gerade laufenden Stücken vorbeiziehen! Nach 50 weiteren Minuten ist auch der 2. Akt zu Ende und hinterlässt die Zuschauer mit solch einer guten Laune, dass man eigentlich morgen direkt nochmal in die Show gehen könnte. Geht ein größeres Lob? Macht Spaß, macht wohlige Schauer, reißt mit, bringt einem zum Lachen und überzeugt mit hoher Qualität.

Und so sieht das aus:

Weitere Infos gibt es hier.

Die Rechte fürs Bild liegen bei Johan Persson.

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