Filme, die rückwärts erzählt werden, haben oft überragende Kritiken bekommen. Bekannte Beispiele sind „Memento“ von Nolan oder „Irreversibel“ von Noé. Tristan Brusch erzählt auch rückwärts. Seine „dunkelromantische Trilogie“, wie er sie selbst beschreibt, findet nun ihr Ende. Dabei befinden wir uns jetzt Am Anfang.
Im Herbst 2021 haucht ein ungewöhnlicher mystischer Wind durch die deutsche Musiklandschaft. „Am Rest“ ist nicht das erste Album des in Gelsenkirchen geborenen Wahl-Berliners, und doch kann man es fast so betrachten. Mit einer furchtlosen Entschlossenheit klang der erste Teil des bereits erwähnten Dreiergespanns so unverfälscht, direkt und erbarmungslos, dass es die Zuhörerschaft würgte und betäubte. Kritiker*innen überboten sich gegenseitig nur so mit Lob, ähnlich verhält es sich mit dem im Frühjahr 2023 erschienenen „Am Wahn“ , das wie eine reflektierte Fortsetzung klang. Als ob der Künstler etwas Abstand zu sich gewinnen konnte, um seine Desillusionierung auf Meta-Ebene zu kommentieren.
Tristan Brusch hat gleich zweimal in Folge völlig überragende LPs veröffentlicht und damit bewiesen, dass es wenig bis niemanden in seiner Liga aktuell gibt. Dass er fast schon ein Genre ganz für sich allein bespielt. Zwischen Weltfrust, Liebesdurst, Selbstzerstörung und zwischenmenschlicher Hoffnung, verpackt in rauem, ehrlich klingendem, direktem Singer/Songwriter. Das haben zwar bisher immer noch nicht genügend greifen können – aber die, die danach gegriffen haben, haben die Hand von der warmen Oberfläche nie wieder weggenommen.
Und nun kehrt der 37-jährige, der zuletzt so viele hervorragende Live-Shows gespielt hat, dorthin, wo es eigentlich anfing. Am Anfang eben. Dafür schwimmt er sich von zu eng anliegenden Fesseln frei und veröffentlicht auf seinem eigenen Label „Wasser & Licht“ erstmalig einen Longplayer. Dafür hat er auch seinen Produzenten gewechselt. Mit Tim Tautorat entstanden die beiden Vorgänger, die eben diesen sehr speziellen akustischen Sound beinhalteten. Stattdessen ist Olaf Opal nun für das Mixing zuständig, den man für seine Arbeiten mit Juli, Ich+Ich, Sportfreunde Stiller, Woods of Birnam und Christina Stürmer kennt.
Das klingt nach einer poppigen Entwicklung. Und tatsächlich ist Am Anfang lebensbejahender als die zwei Werke davor. Es klingt lauter und größer, schreckt vor Streicherarrangements nicht zurück und hat manchmal gar Hymnen-Charakter. Das ist auf der einen Seite vielleicht zunächst etwas irritierend, weil doch anders, aber auf der anderen Seite für den Albumnamen Am Anfang irgendwie konsequent. Ein Anfang muss sich eben so auch anhören und mehr Optimismus vermitteln.
Leicht macht es Tristan einen aber weiterhin nicht, und das ist gut so. Lyrisch äußerst sperrig steigt man mit „Grundsolider Schläger“ in die zwölf Lieder umfassenden 42 Minuten. Schon der Songtitel lässt aufhorchen. Inhaltlich verbirgt sich dahinter eine Geschichte zwischen ihm und einem Bekannten, der dem Alkohol verfallen ist und den Alltag nur noch schwer zu bestreiten weiß, gleichzeitig aber Tristan das Gefühl geben möchte, er müsse sich nicht um ihn sorgen. Im Arrangement gibt es weniger Störgefühl, stattdessen klingt das lange Outro verblüffend stark nach Chris Isaaks Classic „Wicked Game“.
In „Haifisch“ blitzen „Am Rest“-Flashbacks durch – großes Storytelling mit düsterem Liebescharakter. Eine besonders starke Positiventwicklung gibt es dann aber mit „Vierzehn“. Für Fans des luftig melancholischen „Baggersee“ kommt hier ein würdiger Nachfolger. Tristan schaut auf das Erlebte zurück, als er mit 14 Jahren verliebt war und wie es sich im Rückblick anfühlt. Dazu findet das Songwriting-Talent genau die richtige Melodielinie und säuselt voller Nostalgie Gänsehaut-erzeugend genau in den Gehörgang. Ganz wundervoll. Ähnlich fantastisch funktioniert „Die Liebe in Maßen“, für die er „kein Talent“ hat. Fühle groß, lebe groß. Hier sogar mit ungewöhnlich kraftvollen Gitarren-Riffs als Einstieg und hippie-esquem 70s-Feeling.
Eingeständnisse sind oft schwierig. Für Selbstreflexion in Songform braucht es aber noch mehr als nur Empathie. In „Danke, dass du nicht aufhörst, mich zu lieben“ gesteht sich Tristan seine toxischen, narzisstischen Züge ein. Wie abgefuckt er ist, wie wenig er der anderen Person eigentlich guttut. Und trotzdem tief dankbar dafür ist, immer noch Liebe zu bekommen, obwohl er sie gar nicht verdient hat. Schonungslosigkeit, wie es sich die wenigsten trauen. Die Piano-Streicher-Ballade macht erneut Rückenschauer, bei denen man nicht weiß, ob man sie genießt oder verabscheut.
Gesanglich hat sich ebenso einiges getan. In „Wasser & Licht“ – dem Song, der also so heißt wie Tristans Label – singt er tief und betörend, an vielen anderen Stellen auf der Platte in Kopfstimme, was man so noch nicht von ihm gehört hat. Wenn Gesang und Melodie zu einem Feuerwerk zusammenkommen, entsteht gar ein Kleinod. „Die lange Nacht“ ist einerseits das hitverdächtigste was Tristan bisher gemacht hat und klingt nach Grönemeyer-Pop, zu dem Handylichter hochgehen können und ein Publikumschor mitzusingen hat, gleichzeitig ist das aber so berührend-schön, dass man sich einfach nur freut, wie gut – nein, wie sehr gut er wieder abliefert.
In „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ lädt sich der Künstler für einige Zeilen zum wiederholten Male eine Gastsängerin ein. Nach Annett Louisan darf Veronika Hahn ans Mikro, um den wohl berühmtesten Ort für minderjährige Prostituierte zu vertonen. Hier entsteht die größte Schere zwischen seichtem Folk-Pop und schwermütigen Zeilen. Ein spannendes Experiment. Zum Abschluss – oder doch zum Beginn? – rundet der musikalische Geschichtenerzähler den neusten Output ebenfalls zum wiederholten Male mit einer sehr persönlichen Story ab. Gab es auf „Am Rest“ den Weg von der Geburt bis ins Erwachsenen-Leben, auf „Am Rest“ eine Hommage an seinen Sohn Theo, folgt nun „Tristan und Elise“. Eine Beziehung, die heute so nicht mehr existiert, aber anscheinend viel Eindruck hinterließ – sonst wäre sie kein Song wert.
Sämtliche Titel haben keinerlei Pausen zwischen den Songs. Manchmal ist es gar ein fließender Übergang in der Instrumentierung. Tristan Brusch rutscht auf Am Anfang noch näher, möchte noch substanzieller wirken. Das Ergebnis ist zwar nicht ganz auf dem Level der beiden Ausnahmeerscheinungen, die er davor der Welt schenkte, aber immer noch auf weit überdurchschnittlichem Niveau. Wiedermal kann man sich auf mehrere herausragende Kompositionen freuen, die viele vor Neid erblassen lassen, nämlich die Musiker*innen, die immer sagen, wie real sie doch wären, aber dafür schlichtweg zu wenig fühlen. Tristan macht das dankenswerterweise anders. Denn Liebe in Maßen? Können wir nicht, wollen wir nicht, wünschen wir nicht.
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