Eine Subkultur funktioniert in erster Linie immer über Abgrenzung zum Obersystem und zu anderen Subkulturen. Nach einer gewissen Zeit verschwimmen diese Grenzen, sodass die Abspaltung von anderen Untersystemen nur noch schwerlich zu erkennen ist. Dieser Prozess kann sich über mehrere Jahrzehnte ziehen. Der Hardcore hat seine Ursprünge im flotten US-Punk der späten 1970er-Jahre. Bereits seit Ende der 80er entwickeln sich aus dem harten Punk-Ableger weitere Subgenres. So öffneten Bands wie Hüsker Dü und Fugazi die simple Hardcore-Formel in den kommenden Jahren für progressivere Einflüsse: Der Post-Hardcore war geboren. Der ausgeprägte Szene-Gedanke des Hardcore blieb jedoch bestehen. Knapp dreizig Jahreszyklen später scheint die Akzeptanz und Offenheit der Szene deutlich weiter zu sein. Die amerikanische Gruppe Turnstile und ihre drei Mitstreiter Glitterer, One Step Closer und GAG stellen das unter dem Banner „Share A View“ momentan unter Beweis. Das Viererpack machte Anfang März im Kölner Gebäude 9 Halt.
Glitterer, die Offenheit und Probleme der Szene
Als Glitterer aka Title Fight-Bassist und -Sänger Ned Russin pünktlich um halb acht die Bühne des erst kürzlich kernsanierten Gebäude 9 betritt, treibt es noch wenige Menschen ganz an das Ende des langen Raumes. Der Saal, der nun wie ein sterileres Jugendzentrum wirkt, füllt sich trotzdem zunehmend. Schon hier offenbart sich die mittlerweile häufig vorherrschende Offenheit der Hardcore-Szene gegenüber anderen Musikstilen. Russin bellt als Glitterer zwar auch mit seiner markanten, leicht schrägen Stimme in das Mikrofon und ist damit gar nicht so weit von seinem erfolgreichen Hauptprojekt entfernt, die Musik ist aber eine gänzlich andere. Gesellen sich zu seinem Stimmorgan sonst treibende, mal shoegazige Hardcore-Punk-Bretter, so laufen die Instrumentals heute komplett vom Band und werden von Post-Punk, Elektro-Beats und Pop-Spielereien angereichert. Bei den Turnstile-Fans scheint das anzukommen: Der Raum nickt fleißig im Takt und auch der Applaus zwischen den kurzen Stücken fällt immer lauter aus. So sehr sich Russin in seinen Auftritt hängt und jede Zeile fühlt, ist das auch nur verdient. Mit nahezu dreißig Minuten spielt Glitterer zudem das zweitlängste Set des Abends.
Für die zwei darauffolgenden Bands wird es dann etwas typischer Hardcore. One Step Closer aus dem US-Bundesstaat Pennsylvania spielen recht klassischen Hardcore, der ungemein groovt. Auch der in den Anfangstagen der Subkultur weit verbreitete Straight-Edge-Gedanke trägt sich in das Auftreten der Band. Das langsam bis auf den letzten Platz volle Gebäude 9 empfängt die Gruppe dementsprechend euphorisch. Natürlich darf da auch nicht das nervige Violent Dancing und Side-to-Side fehlen. Warum ich beides richtig scheiße finde, möchte ich jetzt nicht nochmal im Detail erklären. Hier habe ich das im letzten Jahr nämlich bereits getan. Nach knapp zwanzig Minuten ist mit One Step Closer bereits wieder Schluss und die noch brachialeren GAG übernehmen. Zu denen kann ich außer, dass sich die Leute noch mehr auf die Fresse hauen, leider wenig sagen.
Turnstile übernehmen
Ganz anders sieht das zum Glück bei Turnstile aus. Das liegt hauptsächlich daran, dass die wenigen Idioten in der nun großen Meute kaum noch auffallen. Für den Gastgeber des Abends wird es nämlich auch ganz vorne erstmals richtig voll. Von Sekunde eins des auf die Sekunde genau 37 Minuten andauernden Sets herrscht vorne komplette Eskalation: Stagedives, Pogo, Two-Step. Das alles geschieht jedoch deutlich rücksichtsvoller als noch wenige Minuten zuvor. Turnstile selber sind zwar für das Chaos auf und vor der Bühne zuständig, dabei aber immer Herr der Dinge. Mehrfach fragt die Band die Menge, ob alles in Ordnung sei und verteilt Wasser an die Fans. Selbst als ein Besucher etwas länger braucht, um sich die Schuhe zu binden, erkundigt sich Bassist „Freaky Franz“ Lyons nach dem Wohlergehen des jungen Herren.
Turnstile stehen als moderate Grenzgänger wohl zwischen dem straighten Hardcore von One Step Closer und GAG sowie der experimentellen Ader von Glitterer. Durch die aktuelle Platte „Time & Space“ – macht den Großteil des Sets aus – leiten jazzige Interludes, die als kleine Ruhepause auch heute Platz finden. Außerdem veröffentlichte das Quintett im vergangenen Januar gemeinsam mit dem Australier Mall Grab eine kleine Remix-EP, nach der nun auch die Tour benannt ist. Von der Veröffentlichung dieser Alternativ-Versionen nimmt man ansonsten aber keine Kenntnis: Alle Songs werden in ihren ursprünglichen, stark an den Hardcore der 90er angelehnten Formen vorgetragen. Trotzdem liegt eine andere, deutlich friedlichere Stimmung in der Luft als bei den zwei Vorgängern: Es wagen sich mehr Frauen und kleine Personen vor und auf die Bühne und man tanzt vorrangig mit- als gegeneinander.
Dass eine solche Tour-Kombi funktioniert und eher schlüssig als exotisch wirkt, bestätigt die Anfangs aufgestellte These: Hardcore grenzt sich als Subkultur fast vier Dekaden nach seiner Entstehung nicht mehr derart drastisch von anderen Subkulturen ab. Der Szene an sich tut das nur gut: Gerade der nicht klaren Grenzen wegen können durchweg spannende Projekte wie Glitterer und Turnstile ihre volle Durchschlagkraft entfalten. Davon profitieren sowohl Bands als auch Zuhörer*innen.
Und so hört sich das an:
Turnstile: Website / Facebook / Twitter / Instagram
One Step Closer: Twitter / Instagram
Glitterer: Facebook / Twitter / Instagram / Bandcamp
Turnstile live 2020:
04.03. – Chemiefabrik, Dresden
05.03. – SO36, Berlin (ausverkauft!)
06.03. – Backstage Halle, München
07.03. – Schlachthof Kesselhaus, Wiesbaden (ausverkauft!)
14.03. – Dynamo, Eindhoven (ausverkauft!) (NL)
15.03. – MOD, Hasselt (BE)
Foto von Jonas Horn.
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