Wohin treibt das Rad der Entwicklung dich, wenn urplötzlich Tausende auf dein Schaffen hinabblicken? Welche künstlerischen Entscheidungen triffst du unter der Last eines solchen Erwartungsdrucks? Und was für Musik schreibst du, wenn schon im Vorhinein klar ist, dass die Außenwirkung des finalen Produktes ganz unabhängig seiner Form riesig ausfällt? Nachdem „Joy As An Act Of Resistance“, Idles Langspieler #2, 2018 mehr als leicht durch die Decke ging und die Briten per Schleudersitz binnen zwei Jahren vom schnuckeligen 300er Moth Club in den 33-mal so riesigen Alexandra Palace katapultierte, mussten die fünf Mittdreißiger, deren Hobby ob gewollt oder nicht zum Job wurde, sich wegweisenden Entscheidungen stellen.
Schenkt man „Ultra Mono“, dem Produkt dieses für Bandverhältnisse langen Entwicklungs- und Reflexionsprozesses, etwas Zeit, so beantwortet jeder Song, jeder Zeile, jedes Soundexperiment diese Fragezeichen spürbar selbstsicher: Alles, nur nicht den einfache Weg nehmen! „Ultra Mono“ von Idles ist schlussendlich genau das: Ein gewagter Schritt ins Leere, der – wohl eher des Könnens statt des Glückes wegen – trittsicher Halt findet. Und die Band anschließend in die fraglos richtige Richtung stolpern lässt.
Wagnis #1: Sound
Brachte das Quintett auf den zwei Vorgängern noch schneidende Post-Punk-Soundwände mit der rotzigen Energie des Punk zusammen, so setzt „Ultra Mono“ diese Elemente in eine moderne Soundumgebung. Gewagt, denn wie wird die oft so konservative Punk-Community das wohl aufnehmen? Von dieser Neuausrichtung zeugten bereits die hochlagigen Gitarrenspielereien – Rezept: man nehme etwas Delay und ein Pitch-Pedal – der Vorabsingle „Grounds“, die so nah am Punk ist wie die späten Green Day, sich dafür ungemein tanzbar zeigt. Unterstützung bekamen die Briten dafür von Kenny Beats, der eigentlich an Rap-Produktionen mitwirkt. Aber die Idles wären eben nicht die Idles, wenn nicht auch diese Zusammenarbeit fruchten würde. Der präsente Hip-Hop-Einfluss fließt neben dem Sounddesign auch in Adam Devonshires Bass ein, der Mix und Dancefloor antreibt. Ein großer Profiteur dieses neuen Fokus auf die Viersaiter ist der unendlich schwere Riff-Part von „The Lover“. Mitreißend!
Wagnis #2: Kollaborationen und Arrangement
Das schelmisch simple Bass-Motiv des großartigen „Reigns“ elektrisiert ähnlich. Der Song legt zudem offen, wie bereit die Band ist, nicht nur ihren Sound, sondern auch ihr Songmaterial mit umliegenden Einflüssen zu unterwandern. Zwischen mitreißenden Arena-Refrains übernimmt in Strophen und Bridge auf einmal ein bedrohlich anmutendes Saxophon die Führung. Gespielt wird dieses von Jazz-Musiker Collin Webster, der auch Bläser für vier weitere Songs beitrug. Das bleibt nicht der einzige Kollaboration. Für „Kill Them With Kindness“ setzt sich Jamie Cullum an die schwarz-weißen Tasten, in „Ne Touche Pas Moi“ gesellt sich Savages-Frontfrau Jenny Beth zu Sänger Joe Talbot und für „Grounds“ steuert Nick Cave & The Bad Seeds-Mitglied Warren Ellis ein kurzes “Hey” bei.
Die zwölf Stücke fungieren ansonsten wie eine optimierte Version der Frühphase-Idles. Die stampfenden Beats sind noch immer da, halten sich an den richtigen Stellen nur zurück. Und auch die Wut ist noch immer da, auch wenn die Band immer selbstsicherer auf die Tanzfläche bittet. Trotz all seiner Wagnisse meistert „Ultra Mono“ diese Gratwanderung zwischen Fortschritt und Stillstand.
„Fuck you, I’m a lover!“
Progression lässt auch Talbot erkennen. Der treibt seiner Lautmalereien aufs Maximum („Wa-ching“) und zeigt ein gewachsenes Gespür für eingängige Melodieläufe. Seine Texte – nun mit noch mehr Fokus auf sein Selbst und die Verarbeitung von diesem – schwanken währenddessen zwischen Wut auf Politik und Gesellschaft sowie Empowerment, arbeiten auffallend wenig mit Repetitionen und behandeln die großen Themen der 20er-Jahre. Da geht es um die Selbstermächtigung von Frauen (Stichwort: Konsens), die Black Lives Matter-Bewegung („I raise my pink fist and say black is beautiful“), Mental Health, deren gesellschaftlichen Stellenwert sowie Umgang von Sozialstaat und Politik („Our government hates the poor // (…) give them drugs they can’t afford“). Und es geht um Gefühle: Um Angst, Trauer, Empathie und natürlich auch Wut.
Ultra, nicht Mono
Die Sterne standen für „Ultra Mono“ nicht wirklich gut. Bei all den Erwartungen konnten viele der möglichen Optionen eigentlich nur enttäuschen. Da sind Effekte der Corona-Pandemie, die die Band natürlich ebenfalls plagt, nichtmal einbezogen. Der Druck scheint die Briten jedoch nur noch weiter zu beflügeln. „Joy As An Act Of Resistance“ mag das große Durchbruchsalbum des Fünfers bleiben, „Ultra Mono“ reserviert der Band dank seiner vielen Wagestücke jedoch einen Platz direkt neben den ganz großen Legenden des Punk und Rock. Und das muss man auch erstmal schaffen. Ultra gut ist das – und so gar nicht eindimensional.
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Hier gibt es unsere Review des Idles Live-Albums “A Beautiful Thing: Live At Le Bataclan”.
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Idles live 2021:
31.05.2021 – Hamburg, Docks
01.06.2021 – München, Muffathalle
04.06.2021 – Berlin, Columbiahalle
05.06.2021 – Köln, E-Werk
Die Rechte für das Albumcover liegen bei Partisan Records.
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