TikTok als Gamechanger. Ach, wo “Gamechanger”? Lifechanger. Das trifft es besser. War bis zur Corona-Pandemie für einen Großteil der Welt “TiK ToK” lediglich ein Song von Kesha, hat sich der beste Treffer bei Google in den letzten paar Jahren erheblich verschoben. Das Videoportal gehört zu den größten Sozialen Medien überhaupt, bei der Zielgruppe unter 30 ist es mittlerweile auf dem Weg an die Spitze. Dabei nehmen die kleinen unterhaltsamen Clips auch erheblichen Einfluss auf Musikgeschmäcker, machen Songs zu Hits und No-Names zu Megastars. Sam Ryder hat das schnell erkannt und effektiv für sich genutzt.
Während diverser Lockdowns saß oder stand der 33-jährige Musiker aus Essex im Südosten Englands regelmäßig vor der Kamera und schmetterte Coverversionen großer Hits. So weit, so gewöhnlich. Doch mit seiner irrsinnig umfangreichen Range und seiner beneidenswerten Gesangstechnik folgten ihm schnell mehrere Millionen Menschen. Aktuell sind es knapp unter 14 Millionen. Doch TikTok-Berühmtheit allein reicht nicht. Waren die Verantwortlichen für die Eurovision Song Contest-Beiträge in UK schon kurz vorm Aufgeben, gab man intern Sam die Chance, für das Land anzutreten – und was passiert? Platz 2. Die erfolgreichste Teilnahme seit 1997. Den gleichen Platz gab es anschließend auch in den offiziellen britischen Charts.
Eine Sensation. Von Null auf Supererfolg. Ok, fast. Nicht ganz. Ohne Vorwissen startete Sam nämlich nicht. Er war bereits Sänger und Gitarrist in mehreren Metal- und Hardcore-Bands (!), kennt demnach das Bühnenleben schon lang und gut. Trotzdem war das Ausnahmetalent eher der Szene als der breiten Masse bekannt. Das soll sich nun schlagartig ändern. Seit Mitte Oktober wird erstmalig europaweit getourt – wir waren beim Kickoff in Köln – , nun folgt das langersehnte Debütalbum There’s Nothing But Space, Man!, ein Zitat aus seinem Eurovision-Beitrag “Space Man”.
Perfekte Voraussetzungen. Übernatürliche Gesang-Skills, Erfahrungen in richtig derben Auf-Die-Fresse-Bands, ein Bekanntsheitspush durch einen erfolgreichen Beitrag beim größten Musikwettbewerb der Welt und dazu mehrere Millionen Follis auf dem trendigsten Sozialen Netzwerk. On top wirkt der Kerl mit seinen langen blonden Haaren und seinen auffälligen Overalls richtig sympathisch – was kann da noch schiefgehen? Offensichtlich sehr viel. Denn There’s Nothing But Space, Man! ist bis auf die Stimme die generischste Popplatte des Jahres. Und das ist echt kein gutes Prädikat.
Möchte man es ein wenig drastisch formulieren, entspricht das Debütalbum von Sam Ryder einem wahren Verschwenden von Ressourcen. Das möchte man 2022 doch wirklich nicht. 14 Songs, die so gnadenlos Formatradio sind, dass sie niemanden beim Bügeln stören. 14 Songs, bei denen die Instrumentalversionen quasi zu jedem Pop-Act der letzten fünf Jahre zugeordnet werden könnten. Das ist so kantig wie eine CD oder eine Vinyl. Also gar nicht.
Entweder hat Sam Ryder mit seinen vorigen Bands immer nur Musik gemacht, in die er reingeflutscht ist, weil er eben das Potenzial für jene Genres hatte und Geld brauchte, oder es ist nun genau umgekehrt. Der Sprung von Metal oder Hardcore könnte größer nicht sein. Das ist auch ok, jede*r darf auch in andere Bereiche abtauchen. Aber das man beim Ausprobieren gleich so extrem auf ein eigenes Profil scheißt, ist schon sehr mutig.
There’s Nothing But Space, Man! wird ordentlich Abnehmer*innen finden, ganz ohne Zweifel. Aber es ist so schrecklich glatt, kompositorisch fast durchweg vorhersehbar und fordert nicht ein einziges Mal heraus. Songs, die unbedingt Hits sein wollen, die unbedingt gemocht werden wollen, aber dadurch schrecklich langweilen. Da startet man die LP mit einer intimen Pianoballade (“Deep Blue Ocean”), die voll auf Emotion setzt und ein “Oh, Obacht!” beim Zuhören entfacht, um dann nach 43 Sekunden in Mitklatsch-Stadion-Pop-Rock abzudriften, den One Direction machen könnten. Genau dieses Anbiedernde ist in jedem Song zu finden. Einfach in jedem.
Der Herr singt fantastisch. Irgendwo zwischen Freddie Mercury – doch, der Vergleich ist schon ok – und Adam Lambert rockt der Typ alles runter und frisst Möchtegern-Sänger*innen zum Frühstück. Beispiele dafür gibt es viele (“Tiny Riot”, “Space Man”, “Somebody”, “OK”, “Lost In You”), die sich zwischen aggressivem Belt und zaghaften Falsettparts abwechseln und wirklich nicht easy nachzumachen sind. Aber warum zur Hölle ist das bitte alles so 0815 verpackt trotz stimmiger Produktion? Warum sind die Kompositionen so auf Ohrwurm und Fast-Food-Mucke getrimmt, statt wirklich mal tief zu gehen, zu berühren oder so richtig wegzublasen? W.A.R.U.M.?
Zu jedem Track fallen einem Querverweise und Assoziationen ein. Da klingt das eine wie Ed Sheeran (“Put A Light On Me”), das andere nach Imagine Dragons (“Tiny Riot”), Sia (“OK”), Rag’n’Bone Man (“Somebody”) und allem, was halt sonst so täglich im Supermarkt läuft oder mit “Ohoho”-Chor noch besser geht (“More”). Hin und wieder ist das auch mal ganz nett, sodass besonders “Put A Light On Me”, “All The Way Over” und “OK” völlig akzeptabler Pop sind – aber bei so einem Potenzial braucht man nicht akzeptabel, da braucht man blown-away. “Ten Ton” lässt durch seinen schönen Aufbruch mit Gospel-Background erahnen, was möglich gewesen wäre.
Doch leider, leider, leider sucht man den ganz großen Knall auf Sam Ryders Best-of-Boring vergeblich. Ein bisschen wie ein neues Werk von Mark Forster, nur eben auf Englisch und mit fetter Stimme. Sauärgerlich. Ein Thermomix, den man als Wasserkocher nutzt.
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