Rent läuft ab sofort in der Oper Dortmund. Ein Großteil der Menschen wird sich nun fragen, was das genau sein soll. Die Musical-Bubble hingegen – und zwar die richtige, also die, die sich für etwas mehr interessiert als nur für Stage-Produktionen – braucht ein Sauerstoffzelt. Das Haus, das in den letzten Jahren mehrfach mit guten Musicalstücken Aufmerksamkeit auf sich zog, zeigt einen Broadway-Klassiker, der es in Deutschland leider nie in die vorderste Reihe schaffte. Dementsprechend schwierig ist es auch, das Meisterwerk in NRW zu sehen. Inszenierungen halten sich seit der deutschen Uraufführung Ende der 90er stark in Grenzen.
1996. Es ist der 25.1., ein Donnerstag. Jonathan Larson weiß, dass Rent endlich das Stück sein wird, mit dem er den großen Durchbruch in New York schaffen wird. Der damals 35-jährige Komponist behält Recht. Nach einigen zwar von den Kritiker*innen positiv rückgemeldeten, aber nie wirklich erfolgreichen Musicals ist sein viertes Werk ein richtiges Brett. Rent kommt zwischen 1996 und 2008 auf über 5100 Vorführungen. Das ist Platz 12 der Stücke, die am häufigsten gezeigt wurden, und Platz 7 der Stücke, die die längste Running Time bei ihrer Originalinszenierung vorweisen können. Doch Larson wird keine einzige davon sehen. Er stirbt. Am Tag der Premiere.
Zufall oder Schicksal, man nenne es, wie man möchte. Genau mit diesen schönen wie tief traurigen Momenten spielt auch der Broadway-Hit, der bestimmt zu Teilen auch so viel Erfolg verbuchen konnte, weil die Geschichte rund um den Komponisten berührt. Zuvor schrieb er “Tick, Tick… Boom!”, eine Art Autobiografie, in der ein fast 30-jähriger Komponist probiert, endlich das Musical zu schreiben, was die Leute begeistern wird. Larson-Fans kommen aktuell in NRW so sehr auf ihre Kosten wie noch nie, läuft nämlich der Rent-Vorreiter seit einigen Wochen im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen.
Doch Rent besitzt mehr als nur eine tragische Geschichte hinter den Kulissen. Rent revolutioniert 1996 das Genre. Womöglich noch nie gab es zuvor derartige starke Pop-Rock-Songs in einem Musical, die ohne jegliche Veränderung auch in den Singlecharts vertreten sein könnten. Noch nie funktionieren lesbische, schwule und heterosexuelle Beziehungen so gut nebeneinander, ohne erzwungen zu wirken. Zusätzlich gibt es Figuren, die obdachlos sind. Eine andere bricht schon vor nun 27 Jahren mit typischen Geschlechterrollen und inszeniert sich somewhere in between. Gleich mehrere Figuren haben AIDS und schauen dem Tod ins Auge. Rent wirkt 2023 immer noch ein wenig edgy, ist aber 1996 eben ein gigantischer Vorreiter. Ok, zugegeben, alles hat sich Larson nicht selbst ausgedacht. Giacomo Puccinis Oper “La Bohème” dient als Inspiration und direkte Vorlage. Aber besser sehr gut adaptiert als miserabel selbstgemacht.
5100 Vorführungen hin oder her – in Deutschland kommt es nie wirklich an. Es läuft immer mal wieder auf kleineren Bühnen. Richtige Fans sind aber wohl diejenigen, die das englische Original kennen, vielleicht sogar in den Genuss kamen, es einmal am Broadway sehen zu dürfen. Dort spielte das komplette “Who is who” der US-Musicalszene mindestens einmal eine der starken Rollen. Wer sich davon überzeugen will, wie sensationell gut das Ganze sein kann, sollte unbedingt Ausschau nach der finalen Broadway-Aufnahme halten, die es fürs Heimkino gibt. Alternativ ist die Filmadaption von Chris Columbus – ja, das ist der von den ersten beiden “Harry Potter”-Filmen, “Kevin – Allein zu Haus” oder “Mrs. Doubtfire” – sehr nah an perfekt, spielen gleich mehrere der New Yorker Cast mit und werden durch exzellent ausgewählte Hollywood-Schauspieler*innen ergänzt.
An dieser Stelle nehmen wir das Fazit vorweg: Wer ohne Erwartungen und Vorkenntnisse in die Dortmunder Inszenierung von Rent geht, wird mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit einen echt guten Abend haben, weil vieles stimmt. Wer aber bereits in die Materie eingetaucht ist, sich vielleicht sogar als Fan des Musicals bezeichnen würde, könnte enttäuscht nach Hause fahren. Nicht, weil es schlecht ist. Wirklich nicht. Aber der so überragenden Vorlage hält es dennoch nicht stand.
Dabei hat man in der Besetzung schon ordentliche Asse im Ärmel. David Jakobs (u.a. “Ku’Damm 56”, “Der Glöckner von Notre Dame”) als Roger, Patricia Meeden (u.a. “Bodyguard”, “Pretty Woman”) als Mimi, Bettina Mönch (u.a. “Cabaret”, “Berlin Skandalös“, “Frankenstein Junior”) als Maureen. Ab Dezember folgt Dominik Hees (u.a. “Cats”, “Doktor Schiwago”, “Kinky Boots”) als Mark. Das sind einige verdammt gute Namen, bei denen man direkt Töne im Ohr hat, wenn man nur von ihnen liest. Und trotzdem fehlt es der Premiere, die am 30.9., einem Samstag, in Dortmund stattfindet, an Druck und Energie.
Mit einem 80 Minuten dauernden ersten und einem 60 Minuten dauernden zweiten Akt geht es mit einer Miniverspätung im fast ausverkauften Opernhaus los. Die Spannung ist spürbar, schon vorab hört man Leute auf Sprachen sprechen, die nicht Deutsch sind. Hier sind Menschen auch aus angrenzenden Ländern angereist, was schon beweist, dass Rent für viele Musical-Liebhaber*innen eben eine wirkliche Bedeutung hat. Für die Inszenierung ist erneut Gil Mehmert verantwortlich, der auch schon in den vergangenen Jahren alle großen Dortmunder Musicals auf die Bühne gebracht hat. Parallel zu Rent gibt es übrigens in der aktuellen Spielzeit auch “La Bohème”, an einigen Tagen kann man gar beide Stücke in einem Rutsch sehen. Sehr praktisch. Das Bühnenbild ist dabei in vielen Teilen ähnlich gehalten, sodass man sich schnell zurecht findet.
Für Newbies die Story in wenigen Sätzen: Mark und Roger leben zusammen in einer WG, können aber zum wiederholten Male die Miete nicht bezahlen. Ihr Ex-Mitbewohner Benny ist mittlerweile deren Vermieter und beschließt, sie herauszuwerfen. Mit ihren Freund*innen probieren Mark und Roger im Leben Fuß zu fassen, was aber als freischaffende Künstler*innen und Musiker*innen schwierig wird. Auch Drogen und AIDS sind für viele ihrer Wegbegleiter*innen unausweichliche Themen. Dazwischen geschieht aber auch etwas Schönes: Liebe.
Rent lebt durch seine sehr intensiven Gefühle. Egal, ob sie durch die Handlung herbeigeführt werden oder durch die Musik, bei der wirklich ein Überhit den nächsten jagt. In Dortmund spielt das Stück größtenteils auf den Dächern New Yorks. Aus Schornsteinen steigt Rauch auf, man kann in die heruntergekommene Butze der beiden Hauptfiguren sehen. Die Farben sind eher kühl. In manchen Momenten fährt die Bühne hoch, sodass sich eine Etage tiefer eine zweite Ebene auftut. Diese wird mal als Bar genutzt, mal als Treffpunkt der AIDS-Selbsthilfegruppe. Zu Weihnachten verwandelt sich die Szenerie in eine Art Marktplatz mit beschmückten Tannen. Im Hintergrund schneit es. Das ist alles soweit ganz schön und ok, aber optisch eher gediegen.
Zwei Hauptprobleme durchziehen das 140 Minuten lange Musical, das von einer halbstündigen Pause unterbrochen wird. Das ist auf der einen Seite der fürs Konzerthaus äußerst überraschende, weil untypische, miese Sound. Im ersten Akt sind viele der sehr schnell gesungenen oder auch schnell gesprochenen Texte schwer verständlich. Einiges geht in der Soundmische gnadenlos unter. Das mag zum Teil an der Technik, zum Teil aber auch an der nicht immer deutlichen Aussprache der Darsteller*innen liegen. Im zweiten Akt wird zwar das Verständnisproblem geringer, dafür das Musikerlebnis erheblich schlechter. Ein Rock-Musical, das kein einziges Mal richtig knallt. An die Wand gedrückt werden? Passiert nicht. Leider. Leider leider. Die fünfköpfige Band spielt die Songs zwar solide, aber selten klang die Musik zu Rent so leer, so reduziert und blechern.
Problem Nummer 2: Die deutsche Übersetzung. Gespielt wird die zweite, nämlich die von Wolfgang Adenberg aus dem Jahr 2007. Das permanente “Ich mag nur das Original” ist nicht die Lösung aller Dinge und bestimmt auch mal übertrieben und Prinzipienreiterei, aber bei Rent muss man einfach zugeben, dass die Übersetzung maximal ok ist. Viele Songs funktionieren auf Deutsch schlechter, einige Gags und Wortspiele – zum Beispiel sämtliche rund um die Figur “Angel” – fallen unter den Tisch. Offensichtlich scheint auch die Oper Dortmund davon zu wissen, besitzen nämlich viele Titel immer mal wieder ein paar Originalzeilen auf Englisch. Der*die eine mag jetzt sagen “Oh, das ist aber schön”, wir finden eher: Super inkonsequent. Wirkt mehr nach “So gut hätte es klingen können, tut es jetzt aber einfach nicht, weil wir es eben auf Deutsch zeigen wollen, um den Leuten mehr zu gefallen”. Dabei bleibt die Oper “La Bohème” doch auch auf Italienisch und es werden Übertitel eingeblendet. Wie schön wäre es, wenn man genau das auch mal bei Musicals tun würde! Der bekannteste Song des Stücks, “Seasons of Love” ist übrigens komplett auf Englisch. Als ob man gewürfelt hätte.
Das Niveau der Cast ist unterschiedlich, zum Glück aber nie unter Durchschnitt. Christof Messner als Mark ist wohl der Einzige, zu dem man am Ende keine klare Meinung hat, weil er am konturlosesten bleibt. David Jakobs als Roger ist gewohnt gut, hatte aber auch schon bessere Tage. Besonders im ersten Akt bei seinem Megasolo “One Song Glory” (wir kennen leider nicht alle deutschen Songtitel und wählen deswegen die Englischen) singt er mit stark angezogener Handbremse. Natürlich richtig und gut, nur nicht druckvoll. Schade. Genauso liefert Patricia Meeden im ersten Mimi-Solo “Out Tonight” eine wirklich scharfe Choreo, ihr Gesang ist aber lieber schön als dirty, lieber sanft-soulig als rough. Nochmal schade. Im zweiten Akt tauen beide aber auf und sind besonders im Zusammenspiel ansprechend. Alex Snova als Tom Collins ist in seinen Dialogszenen oft unverständlich, sorgt aber mit seinem weichen Timbre für den nötigen Collins-Schmelz. Lukas Mayer als Angel ist mit seiner beachtlichen Körpergröße und seiner Beweglichkeit auf jeden Fall ein echter Hingucker. Die Tanzeinlagen sind absolut perfekt, gesanglich wird es in einigen wenigen Stellen etwas unsauber und nicht ganz im Ton.
Eigentlich besitzt die erste Hälfte mindestens zehn Momente, in denen es einem eiskalt den Rücken runterlaufen könnte. “One Song Glory”, “Light My Candle”, “Another Day”, “Will I”, “La vie Boheme”, da kommt eine perfekte Nummer nach der nächsten. Es dauert aber genau eine Stunde, bis endlich das Niveau erreicht wird, was erreicht werden muss. Bettina Mönch als Maureen. Ein Auftritt, der über einen langen Spannungsbogen vorbereitet und dann in “Over the Moon” wirklich hervorragend-skurril entladen wird. Mönch zeigt grandioses Overacting, springt treffsicher zwischen den Oktaven und haut einfach grandios raus. Das ist das Level, was eigentlich auch Jakobs und Meeden können, aber eben im ersten Akt nicht zeigen.
Mit “Seasons of Love” als Opening nach der Pause ist natürlich der Peak erreicht. Der Saal ist erfüllt voller Liebe. Sowieso fällt immer wieder auf, dass viele Menschen im Publikum sitzen, die auf diesen Abend lang gewartet haben. Selten hört man nach Songs so große Begeisterungsstürme in der Oper Dortmund. Auch der Schlussapplaus hält über Minuten an. Das Highlight erwartet einen aber bei dem vielleicht nicht bekanntesten, dafür aber wohl bestem Frauenduett in einem Musical neben “Defying Gravity” aus Wicked: “Take Me Or Leave Me” ist von Mönch als Maureen und Amani Robinson als Joanne fantastisch vorgetragen. Das ist Energie, Leidenschaft, Drama und ein Battle voller starker Töne. Gen Ende scheint die Aufregung sich bei allen gelegt und jede*r sich in der Rolle gefunden zu haben. Nach einigen Underwhemling Performances in der ersten Hälfte, wird zum Finale hin mit “I’ll Cover You (Reprise)” “Without You” und “What You Own” auch die Zurückhaltung weniger. Davon bitte unbedingt von Anfang an mehr.
Ein wirklich großes Dankeschön an das Theater Dortmund, das Rent endlich wieder auf die Bühnen holt. Ein Stück, das sogar 2023 immer noch außergewöhnlich im Musical-Kosmos wirkt, einen exzellenten Gegenentwurf darstellt und sich musikalisch etwas getraut hat, bevor es beispielsweise ein “Hamilton” gab. Rent ist eben ein Musical, das auch Menschen gefallen kann, die Musicals nicht mögen. Selbst heute wirkt es noch frisch und nicht angestaubt. Wer jetzt neugierig geworden ist und bisher nichts von dem Stück weiß, darf sich auf nach Dortmund machen. Wer aber dem Stück auch schon so ewig lang enorm viel emotionalen Wert beimisst, das englische Original sehr gut kennt und liebt, muss Abstriche machen. Besonders beim Sound und bei den Energien auf der Bühne kann hier für die nächsten Vorstellungen nochmal eine ganze Schüppe draufgelegt werden. Und was die Übersetzung angeht: Nun ja, da haben wir dann wohl schlichtweg Pech gehabt.
Und so sieht das aus:
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Foto von Thomas M. Jauk / Theater Dortmund
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“Wer ohne Erwartungen und Vorkenntnisse in die Dortmunder Inszenierung von Rent geht, wird mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit einen echt guten Abend haben, weil vieles stimmt.” Das erste trifft auf mich zu, das zweite leider nicht. Ich habe mir das Stück gestern bis zur Pause gegeben. Da der Sound so schlecht war und besonders die Höhenlagen als schmerzhaftes Gebrüll herüberkamen, der Text oft nicht zu verstehen war, habe ich mir Teil 2 gespart. Die ganz überwiegend doch recht uninspirierten Rockmusiknummern des Stücks (mir bleibt leider nichts davon hängen) und die etwas fade Inszenierung wirkten leider nicht als Argumente, das Stück bis zum Ende kennenzulernen.
Hi! Vielen Dank für deinen Kommentar.
Ich fand die Inszenierung auch überhaupt nicht gelungen, gebe dir aber den Tipp, den Film von Chris Columbus aus 2005 zu schauen.
Ich kenne mittlerweile mehrere, die mit der Inszenierung in Dortmund – besonders wegen der fürchterlichen Übersetzung – so gar nichts anfangen konnten, den Film aber lieben. Probier’s mal aus 🙂
Einen guten Rutsch dir in ’24!