Es gibt Menschen in der Musikszene, die landen mit einem Song einen dermaßen großen Erfolg, dass er selbst Generationen später noch ein Begriff ist. “One-Hit-Wonder” nennt man sie wohl. Davon gibt es enorm viele. Jährlich kommen neue hinzu. Dann gibt es aber auch Menschen, die schreiben mit eben jenem Hit Musikgeschichte. Nicole hatte ihren ganz persönlichen “Moment to Shine” bereits 1982. Das ist 41 Jahre her. Und dennoch kennt jeder ihren Augenblick. Entweder, weil er*sie live vorm TV dabei saß oder weil man ihn in den immer wieder gezeigten Rückblinden gar nicht ignorieren und verpassen kann.
Nicole Hohloch, einige Zeit später Seibert, ist am 24.4.1982 17 1/2 Jahre alt. Beim Eurovision Song Contest im englischen Harrogate startet sie mit “Ein bisschen Frieden” für Deutschland auf der Startnummer 18, das ist der letzte Beitrag an jenem Abend. Schon fünfmal sah die BRD das Siegertreppchen. Die beiden Jahre zuvor gab es sogar jeweils den zweiten Platz. Doch mit der unschuldig wirkenden, jungen Gymnasiastin aus Saarbrücken stehen die Sterne an jenem Samstagabend perfekt. 161 Punkte gibt’s am Ende. Das klingt heutzutage in absoluten Zahlen ganz schön wenig, ist aber mit fast 79% der möglichen Punkte bis heute immer noch Platz 3 auf der “Was war möglich”-Liste. Bei der 2005 stattgefundenen Gala zum 50-jährigen Jubiläum wurde “Ein bisschen Frieden” zum siebtbesten Song von allen jemals angetretenen ESC-Songs gewählt. Übrigens sind Bernd Meinunger und Ralph Siegel bis heute stolz darauf, die einzigen deutschen Komponist*innen zu sein, die den ESC für Deutschland gewonnen haben, denn “Satellite” von Lena wurde nicht von Deutschen geschrieben. Word.
Genau dieser Meilenstein der deutschen Musikhistorie hat über vier Dekaden später immer noch so viel Kraft, dass Nicole weiterhin ein Publikum anzieht. Wobei: Schaut man sich am 28.9.23, einem Donnerstag, in der ganz schön in die Jahre gekommenen Erich-Göpfert-Halle in Unna um, hat man eher wenig das Gefühl, dass sich die typische ESC-Crowd hier sammelt. Das mag daran liegen, dass “Ein bisschen Frieden” zwar der bekannteste und größte Hit blieb, aber sich Nicole nach ihrem Sieg für eine ganz andere Sparte entschied. Sie wollte weiterhin auf Deutsch singen. Das war auch gerade mit der Neuen Deutschen Welle ziemlich angesagt, trifft aber nur bedingt ihren Geschmack. Stattdessen macht Nicole fortan klassischen Schlager. Und zwar diesen richtigen Prototyp-Schlager. Den mit eingängigen Melodien, der mit großer Geste, ein wenig Schmalz und Kitsch und Beats funktioniert, zu denen man perfekt Discofox lernen kann.
Nicole wird in ihrem Genre die unangefochtene Königin. Eigentlich so ein bisschen das, was Helene heute ist. Nur mit mehr Authentizität und weniger Over-the-Top-Effekten. Auch wenn es in den deutschen Singlecharts immer nur kurz oder auf den hinteren Rängen klappt, wird sie in der Kultshow “ZDF-Hitparade” ein Megastar. Jeder Song löst Begeisterungsstürme aus, 17 Mal gewinnt sie die Sendung. Und wer in den 90ern auch nur eine typisch deutsche Familienfeier oder eine Vorortkneipe besucht hat, kennt mindestens drei ihrer Hits und hat womöglich mit Mama, Papa, Tante oder Onkel mal dazu getanzt. Entweder zu den einzelnen Songs oder zu den sehr schrägen und trashigen, aber damals unglaublich beliebten Hit-Medleys.
Viele der Besucher*innen in der Stadthalle Unna – geschätzt haben gute 500 Personen Platz genommen – haben diese Zeit wohl noch im Kopf. Partys, die so auch heute nicht mehr passieren. Nostalgie schwebt im Raum, auch auf der Bühne. Fast auf die Minute genau betritt die vierköpfige Band die Bühne, die fast 59-jährige Sängerin folgt kurz darauf. Erst 55, dann 70 Minuten lang gibt es eine Reise durch fünf Jahrzehnte, von den 80ern bis heute. Doch ein halbes Jahrhundert hinterlässt Spuren. Dass man altert, ist sowieso nicht zu ändern. Allerdings musste Nicole parallel zur nervenaufreibenden Corona-Pandemie alle Kräfte für sich selbst sammeln. Zwei bösartige Tumore in der Brust wurden 2020 bei ihr entdeckt, die sie glücklicherweise bekämpfen konnte. Die 25 Gigs umfassende Ich bin zurück-Tour 2023 ist somit nicht nur ein Siegeszug über den Krebs, sondern mit dem dazugehörigen Titel auch ein rührendes Statement. Bei einer derartigen Stagetime fällt aber auf, dass ab und an die Energie doch ein wenig nachlässt.
Ein Vorschlag: Wäre es nicht schön, solch eine Grand Dame, die sich über so viele Jahre treugeblieben ist und immer noch in einer gar nicht so kleinen Bubble funktioniert, in passenden Räumlichkeiten auftreten zu lassen? Besonders die Stadthalle Unna hat ein dermaßen altbackenes Schulimage, dass das Nicole so gar nicht gerecht wird. Mit Sicherheit gibt es auch schicke Theater in derselben Größenordnung. Das ist aber am Ende doch eher Nebensache. Wichtiger ist, dass die über zwei Stunden laufende Show 24 unterschiedliche Titel umfasst, was wirklich ordentlich viel ist. Davon werden einmal vier und einmal zwei in einem Medley zusammengepackt, alles andere gibt’s in kompletter Länge.
Die Auswahl ist riesig, die Zeit begrenzt. Doch Nicole nutzt die Show, um kaum eine Periode ihres Schaffens auszulassen. Sowohl ein “Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund”, das noch vor dem ESC veröffentlicht und ein richtiger Charterfolg wurde, zeigt das eine Ende der Reise, “Ich bin zurück”, Album- wie Tourtitel, ist das andere Ende und gleichzeitig der Konzertopener. Dazwischen wechselt man von Akustikmomenten über epochale Drama-Balladen bis hin zu den Partyclassics, die jeder in der Halle vorwärts und rückwärts mitsingen kann. Besonders sind aber die oft minutenlangen Reden, die Nicole neben den Songs hält. Geschichten über ihr Lieblingsreiseziel Südafrika, darüber, wie ein Lied seine Farbe ändert, wenn man es in einer anderen Sprache singt oder über ihre schon in der Kindheit entdeckten Leidenschaft zur Musik. Das ist alles sehr persönlich, wirklich schön erzählt und gibt dem Konzert einen ansprechenden Rahmen.
Der Sound in der Halle ist von Anfang an gut abgemischt, es dürfte aber gern etwas lauter sein. Musikalische Highlights gibt es mehrere. Da wären einerseits das multilinguale Moll-Stück “So viele Lieder sind in mir”, das immer noch zu den ganz großen deutschen Balladen der 80er zählt. In “Ich hab dich geliebt” gibt es absoluten Fokus auf den Gesang, was fantastisch funktioniert. In dem neuen “Melody” kann man sehen, dass die Nicole, die auch viel mit Körpersprache transportiert, mit einem 2023 Song es ebenso hinbekommt. “Ein leises Lied” ist kompositorisch nie totzukriegen. Bei dem Vierergespann “Dann küss mich doch”, “Mach, was du willst”, “Am liebsten mit dir” und “Mit dir vielleicht” fühlt es sich plötzlich wieder an wie auf den schon erwähnten Feten vor 30 Jahren. Das ist herrlich Retro und treffsicher.
Schade wiederum, dass genau diese Qualitäten nicht von vorne bis hinten ausgespielt werden. So gibt es sowohl ein paar – wenn auch wirklich sehr wenige – Songs, bei denen der Gesang nicht ganz live ist, und man sich besonders im Vergleich zu den Livemomenten fragt, warum das jetzt nötig ist. Aber auch das Auffrischen von manchen alten Hits, die plötzlich in neumodische Beats gepackt werden, stößt ein wenig bitter auf. Negativbeispiel wäre hier “Die zweite Liebe”. Sind aber wirklich nur Einzelfälle. Die Sängerin selbst berichtet von vielen old schooligen Dingen wie dem Schreiben von Briefen und Schallplatten, dann darf sie auch ruhig genauso old school klingen. Also weg mit dem “Wir müssen das unbedingt ins Heute transportieren”.
Nicole macht sich mit ihrer authentischen und greifbaren Art sehr nahbar. So gibt es in der zweiten Hälfte sogar Songs, die im Publikum gesungen werden und man ihr nur wenige Meter entfernt ist. Neben der Tatsache, dass sie ihre Krankheit überwunden hat, ist aber dann doch “Ein bisschen Frieden” der Titel, der mit so einem Spannungsbogen vorbereitet wird, dass er einen emotional gnadenlos erwischt. Schon damals war es eine Friedenshymne und erreichte auf eine naive, aber gleichzeitig so zarte Art die Menschen. Nicole selbst sagt, dass sie niemals gedacht hätte, wie so ein Song nach so vielen Jahren immer noch Aktualität besitzen kann. Aus dem Grund hat sie den Refrain auf Ukrainisch übersetzen lassen, um den neuen Mitbürger*innen eine helfende Hand reichen zu können. Ja, das trifft nochmal auf anderem Level. Dazu setzt sie sich auf einen Hocker, hat ihre weiße Gitarre unterm Arm und gefühlt hat sich in der Welt viel, viel zu wenig positiv verändert.
Man spürt und sieht, dass der Krebs ihr einen Teil Energie genommen hat, den sie sich noch nicht ganz zurückerobern konnte. Klingt sie meist wie damals, ist es an einigen Stellen oben dann doch mal etwas unsauber, was wohl dem Stimmvolumen geschuldet ist. Doch auch das ist weniger schlimm, weil ihre Präsenz und ihr Charakter einfach tragen. Nicole hat sich nie für irgendetwas verkauft, ist stets sympathisch, echt, bestimmt auch ein wenig esoterisch und dramatisch, aber dadurch gleichzeitig bodenständig und nicht Showbusiness. Ich bin zurück ist hoffentlich ein Plädoyer, denn lebende Legenden im deutschen Musikgeschäft, an denen niemand vorbeikommt, sind wirklich rar gesät.
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Foto von Christopher
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