Beim Reeperbahn Festival ist alles etwas anders als bei den ganz großen Major-Festivals, die vor allem auf große Namen mit viel Publikumswirksamkeit schauen. Gleichzeitig ist das Showcase-Festival auch nicht vergleichbar mit Liebhaber-Festivals wie dem Maifeld Derby oder dem Appletree Garden – dafür ist der Fokus zu sehr auf Branche & Business gerichtet. Dieser Kontrast bringt viele Vorteile für offene Musik-Nerds und neugierige Menschen mit sich, ein paar Kritikpunkte bleiben aber auch. 4 Jahre nach unserem letzten Besuch schauten wir wieder bei Molotow & co vorbei – und fanden es wie folgt.
Kilometerstände füllen auf der Reeperbahn
Wer sich ein Club-Festival mit knapp 49.000 Besucher*innen grundsätzlich entspannter vorstellt als Rock am Ring & co hat auf eine Art recht – und auf eine andere gar keine Ahnung. In den letzten Jahren war die Erinnerung an die unzähligen Wegstrecken schon in romantischer Nostalgie verblasst. Jetzt kam die Erleuchtung – und auch der Frust. Denn man kann dem Reeperbahn Festival sicherlich keine Makel im Line-up vorwerfen. Und doch ist es – wenn auch alternativlos – immer auch sehr frustrierend, sich zwischen Hypes, Hoffnungen und Geheim-Tipps entscheiden zu müssen. Regelmäßig spielen knapp 6-8 Acts parallel. Zwischen den Bands muss dann auch immer noch die Wegzeit mit einberechnet werden, die zwischen den Locations liegt. Und die kann zwischen Molotow und dem Uebel & Gefährlich schonmal knapp 30 Minuten ausmachen. Aber das ist altbekannt und gehört eben dazu.
Der Charme des Ganzen ist natürlich auch, dass man sich selbst als Ruhrpott-Kind ganz schnell wie ein Teil der Hansestadt fühlt, wenn man hier regelmäßig durchspurtet, Pausen an Buden und Essensständen macht oder auch mal kurz die Aussicht genießt. Und alleine für das Entdecken der beeindruckend vielen beeindruckend schönen Konzertvenues lohnt sich diese Reise auf jeden Fall. Überdurchschnittlicher Sound, super entspannte Organisation und wieder ein tolles Rahmenprogramm im Festival-Village kommen zu diesen allgemeinen Umständen hinzu. So weit, so top. Kritikpunkte gibt es aber dennoch: Trotz großem Awareness-Konzept erweckt der Branchentreff beim Conference Programm leider nicht das Gefühl, als wären Themen wie Konsens, Machtmissbrauch und sexualisierte Übergriffe wirklich wichtig. Dabei muss man nicht mal auf die zahlreichen großartigen Aktivist*innen hören, die sich tagtäglich für die Sichtbarkeit in der Kulturbranche stark machen. Es reichte ja ein Blick in die größten Zeitungen, um von den vielen schrecklichen Fällen alleine der letzten Monate mitzubekommen. Darüber hinaus wird weiterhin die Preispolitik des Reeperbahn Festivals kritisiert, die es vielen kleineren Labels und Bands unmöglich macht, hier eine Bühne zu bekommen. Sehr schade und ebenfalls ein Verbesserungswunsch.
Aber kommen wir zum persönlichen Erlebnis: Wir haben uns gegen die Panels und Konferenz-Punkte entschieden und strömten stattdessen zu Konzerten und Bands. Wie die so waren? Genau so:
Donnerstag: Ein Einstand mit Gänsehaut
Den großen Mittwoch inklusive Opening Show mit Arlo Parks verpasst zu haben, schmerzt. Trotzdem hält auch der Donnerstag endlose Möglichkeiten bereit, den Tag zu zelebrieren. Und auch wenn für viele sicherlich der Überraschungsact K.I.Z. mit einer riesigen Open-Air-Bühne zum Highlight des Tages wurde, müssen sich die anderen Acts nicht verstecken. An allen Tagen überraschte vor allem das kostenlose Angebot für alle ohne Festivalbändchen positiv – Acts wie Holly Humberstone, Lena & Linus oder Grandson hier für 0€ live zu erleben, ist wirklich toll. Diese Acts spielten alle beim N-Joy Reeperbus, wo wir uns am Donnerstag die Newcomer*innen Maddie Zahm, Katha Pauer und Woody anschauten. Das klare Highlight war hier Woody, die als nächste Adele angekündigt wird. Nun gut, das ist natürlich ein maßlos unangebrachter Vergleich, Woody kann nämlich mit einem ganz eigenen Sound begeistern. Stimmlich wirklich bemerkenswert und bestens in den aktuellen Zeitgeist passend. Ebenfalls auf dieser kleinen Bühne: K. Flay, zu der wir aber am Freitag erst mehr sagen konnten.
Ebenfalls kostenlos ist die große Bühne auf dem Spielbudenplatz, wo wir uns spontan ein paar Konzerte des Korea Spotlight-Showcases anschauen. Vor allem der Hip-hop von Goldbuuda und Lil’Cherry fällt auf und würde auch in den Szene-Playlists gut ankommen. Andere tolle Auftritte des ersten Tags fanden dann in den Clubs statt.
Die großen Highlights am Donnerstag:
- Featurette @ Bahnhof Pauli: Die Electro-Band aus Toronto ließ die Wände mehr erzittern als jeder ICE und brachte einen vollen Akku aus dicken Synthesizern und Alternative-Pop-Elementen mit. Sängerin Lexy Jay ist zudem eine sehr unterhaltsame Performerin, ihre Band liefert dazu Beats und Bässe. Richtig, richtig gut.
- Orbit @ Mojo Club: Im unglaublich schönen Untergrund-Club legt der Electronica-Hype der Stunde ein wahnsinnig schönes Set hin. Die sanften Synthesizer packen die ganze Halle in Watte und werden mit einer zitternden Zerbrechlichkeit der Marke Bon Iver verwoben. Einzigartige Atmosphäre.
- The Last Dinner Party @ Uebel & Gefährlich: Das Highlight des gesamten Festivals kam mit Ankündigung. Schon die ersten beiden veröffentlichten Songs “Sinner” und “Nothing Matters” sind so dermaßen unkaputtbar, dass sie in jede. einzelne. Jahresbestenliste gehören. Live war die Band dann endgültig unaufhaltbar. Butterweiche Gesangsharmonien, musical-esque Spannungsbögen, Pop-Appeal und Noise-Wände, Indie und große Bühne – und dazu ein gänzlich einzigartiger Sound. Gänsehaut überall, denn hier muss mit ganz großer Wahrscheinlichkeit der nächste richtig große Fisch im Indie-Teich vor uns gestanden haben. Mark my words!
- Mariybu @ Häkken: “Hell is queer!” heißt es bei Mariybu und das heiße Höllenfeuer zuckt hier zu den schönsten Eurodance-Beats. Blätter vor irgendwelchen Mündern oder pseudo-anspruchsvolles Drumherumfaseln ist hier hingegen nicht erwünscht. Eine ganz wunderbar-sympathische Party für queere Herzen.
Freitag: Der nächste große Headliner
Bestens aufgewärmt kann das Festival jetzt erst recht starten. Dafür zeigt das Konzept, hauptsächlich in bislang unbekannte Acts reinzuhören, auch seine Nachteile: Sowohl die australische Post-Punk-Band Floodlights als auch der Pop-Rock von Sam Himself aus Basel bleiben eher blass und austauschbar. Dann geht es stattdessen eben zum Festival Village, wo wir uns stundenlang durch die wunderschönen Kunstdrucke der aussstellenden Künstler*innen wühlen. Könnte schlimmer sein. Aber natürlich gab es im Anschluss trotzdem noch ein paar wirklich schöne Konzerte.
Die Highlights am Freitag:
- Lena & Linus @ : Lena & Linus singen wirklich sehr gerne über Kippen, sie singen das aber auch wirklich sehr, sehr schön. Unter ‘sympathisch’ und ‘süß’ im Newcomer*innen-Lexikon würden die beide einen garantiert entgegen grinsen. Das klingt alles nicht super innovativ, in der Indie-Riege wird es aber trotzdem ein gemütliches Plätzchen für sie geben.
- Dream Nails @ Headcrash: ENDLICH eine der besten Queer-feministischen Bands überhaupt live gesehen – und oh my, war das gut! Die Dream Nails spielen melodischen und doch komplett radikalen Punk. Queer Joy & Aufstand gegen das Patriarchat vereint unter den vielen Hits. Nicht weniger erwartet und doch positiv überrascht.
- K. Flay @ Uebel & Gefährlich: K. Flay ist eine der wenigen Acts, die auf diesem Blog vor diesem Festival schon sehr oft stattgefunden haben. Und das natürlich mit recht, gerade live ist dieser Sound so stark wie der Ansturm auf NFL-Merch nach dem Taylor Swift-Stadion-Besuch. Trotzdem ist der Sprung, den K. Flay mit dem neuen Album “Mono” nach vorne gemacht hat, nochmal bemerkenswert. Druck, Stimmung, Songs – alles stimmt. Und das locker auf Headliner-Niveau.
Schöner könnte ein Tag gar nicht enden. Daher geht es im Anschluss vollkommen zufrieden zurück in die Ferienwohnung. Das große Finale kann kommen.
Samstag: Ratlosigkeit & Überraschungen
Wie schon beim letzten Besuch beim Reeperbahn Festival ist das große Finale aber dann irgendwie gar nicht so groß wie gedacht. Klar, mit Acts wie The Pretenders, Holly Humberstone und den Blood Red Shoes stehen heute echt große Namen auf der Bühne. Die spielen nur alle so unglücklich parallel, dass man ohnehin maximal einen erwischen könnte. Tagsüber klaffen dafür große Lücken im Schedule – hier nochmal die Frage: Warum ist der Samstag so mau ausgestattet? So wirklich reißen Acts wie Hot Wax dann außerdem leider noch nicht mit. Mag man ihnen auf Grund des sympathischen Auftritts aber verzeihen.
Unsere Wahl für den standesgemäßen Elbphilharmonie-Besuch fiel auf Matt Corby, der dann mit einer objektiv ganz klar stimmigen und beeindruckenden Show auf die Bühne kam. Aber auch mit einer, die für mich persönlich zu viel Stimmen-Geflexe und zielloses Gejamme beinhaltete. Da hätten die anderen Acts sicher mehr zum Geschmack gepasst. Etwas enttäuschend ist der Tag insgesamt also leider schon – aber alleine der Besuch dieser beeindruckenden Location mit diesem glasklaren Sound ist jedes Mal aufs Neue lohnenswert. On top bietet der Samstag noch zwei schöne Überraschungen.
Die Highlights am Samstag:
- Kuoko @ Bahnhof Pauli: Angenehm smoother und doch verzahnter Synth-Pop, der den Bahnhof Pauli nochmal in waberndes Strobo-Licht. Die Leute lieben es mindestens genau so sehr wie Kuoko selbst, die zu ihrem tollen Songwriting auch noch zwei Tänzerinnen mit eingepackt hat. Für die Größe dieses Auftritts ein wirklich bemerkenswert tolles Upgrade. Lieben wir!
- Aziya @ Nochtspeicher: Etwas geknickt und schon im Post-Festival-Blues geht es zum letzten Festival-Act Aziya. Die Musikerin aus London hat dann zu allem Übel auch noch stark mit der Technik der Venue zu kämpfen, die genau das macht, was sie und ihre Band nicht wollen. Aber geschenkt: Das ist plötzlich so starker und überraschender Noise-Rock, dass der Nochtspeicher plötzlich zur großen Halle wird. Auf dem Merkzettel behalten!
Eins ist klar: Wer die großen Acts und so tolle Venues wie die beiden teilnehmenden Kirchen verpasst hat, hat nur einen gaaanz kleinen Teil des Reeperbahn Festivals erlebt. Ums nochmal auf den Schirm zu bringen: 475 Konzerte bot das Festival insgesamt – das hier ist also nur ein maximal subjektiver Eindruck. Was deswegen auch klar ist: Der nächste Besuch muss anstehen. Denn gerade die Vielfalt des Line-ups, der Venues, der Genres ist etwas ganz Besonderes. Und dank der vorbildlichen Umsetzung des Keychange-Konzepts und der schönen neuen App macht das Festival einfach nur Spaß fürs Musiknerd-Herz. Demnächst dann aber bitte auch mit Platz für Kritik an der Branche und mehr Möglichkeiten für kleine DIY-Acts.
Und so sah das Ganze aus:
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Bilder von Julia.
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