Björk – Cornucopia Live

björk cornucopia live cover

Zugegeben: Ganz einfach machte es Björk ihren Zuhörer*innen noch nie. Doch mit den vier letzten Alben ist die äußerst ambitionierte isländische Künstlerin – und hier darf das Wort „Kunst“ in „Künstlerin“ wortwörtlich genommen werden – für so manchen übers Ziel hinausgeschossen. Mögen zwar Konzepte mit Virtual Reality oder App-basierte Spielereien dem Erlebnis einiges an zusätzlichem Nährwert verpassen, so ist zumindest die Musik allein von „Biophilia“ (2011), „Vulnicura“ (2015), „Utopia“ (2017) und zuletzt auch von „Fossora“ (2022) arg sperrig gewesen. Mit ihrem Live-Longplay Cornucopia Live holt Björk aber ihre Schäfchen doch nochmal ins Trockene und bringt die, die sich äußerst lost gefühlt haben, sicher durch den verworrenen Klangdschungel.

Viereinhalb Jahre lang tourte die in wenigen Wochen 60 werdende Ikone durch Nordamerika, Ozeanien, Asien und Europa, um ihr detailverliebtes, aufwändiges Cornucopia-Projekt vor Publikum zu präsentieren. Übrigens ist Cornucopia das lateinische Wort für Füllhorn, das symbolisch für materiellen und natürlichen Überfluss, Wohlstand und Großzügigkeit steht. In Björks Universum spiegelt es den Zusammenhang zwischen Natur und Technologie wider, die am besten in Synthese funktionieren, aber auch einige Schwierigkeiten mit sich bringen. Natur ist Leben, Leben ist Frieden und Freude, gleichzeitig nichtsdestotrotz Gefahr.

Der Mitschnitt aus Lissabon, dem 33. Termin der Tour, erscheint nun in quasi jedem möglichen Format. Vinyl, CD, DVD, Blu-Ray, 4K-UHD-Blu-Ray und teilweise kombinierte Möglichkeiten sorgen dafür, dass wirklich jede*r bekommt, wonach man Ausschau hält. Sowohl die Ton- als auch die Bildträger umfassen die volle Setlist, die etwas mehr als anderthalb Stunden hergibt. Dass die Qualität auf beiden Ebenen sensationell ist, sollte wohl nur aus Pflichtgefühl erwähnt werden – denn wenn jemand dermaßen übereifrig auf technische Equipments achtet, wäre eine unsachgemäße Umsetzung für Daheim eine Schandtat.

Im Fokus steht nicht die letzte Veröffentlichung „Fossora“, sondern der Vorgänger „Utopia“, zu dem die Reihe konzipiert wurde. Mit gleich 12 Songs nimmt es über die Hälfte des gesamten Programms ein, wird ergänzt durch vier Tracks von „Fossora“ sowie jeweils einem von „Post“ und „Vulnicura“ plus je zwei Titeln von „Vespertine“ und „Medúlla“. Ein paar Songs wechselten im Laufe der Tour. Durch die Teilnahme des Hamrahlid Choir aus Island, der aber nur bei ausgewählten Terminen dabei war, befinden sich „Body Memory“ „Hidden Place“ und „Mouth’s Cradle“ auf der Aufzeichnung, dafür mussten „Venus as a Boy“, „Claimstaker“ und „Mycelia“ weichen, die man beispielsweise bei den deutschen Auftritten in Hamburg und Leipzig hören konnte.

Klare Empfehlung an dieser Stelle: Unbedingt das Konzert mit Bildmaterial genießen! Um es ein wenig plakativ zu formulieren, wirkt der reine Höreindruck nämlich ein wenig… ambivalent. Auf der einen Seite steht die immer noch irrsinnig gute, absolut einzigartige Stimme einer Künstlerin, die sie schon so viele Jahre benutzt, aber nicht einen Hauch an Intensität einbüßen musste. Sowieso scheint der Anspruch zu sein, den Studioversionen möglichst nahzukommen, was wahnsinnig beeindruckt. Dass solche Sounds reproduzierbar sind, liegt nämlich nicht auf der Hand. Auf der anderen Seite bleibt die völlig abstrakte Erzählform ohne erkennbare, klassische Songstrukturen – heißt konkret: Strophe-Refrain-Schema – nämlich weiterhin gänzlich ungreifbar.

Das ändert sich jedoch dankenswerterweise beim Schauen des Films, der dem Liveeindruck selbstredend nicht ebenbürtig erscheint, aber einen dennoch sehenswerten Part anbietet. Außergewöhnlich: Der Mitschnitt zeigt kein einziges Mal das Publikum, fährt also nicht durch die Altice Arena in der portugiesischen Hauptstadt, wo er am 1.9.2023 entstand. Ja, richtig gelesen – über zwei Jahre musste man warten, um hier nun dieses Produkt fürs heimische Kino ergattern zu können. Björk bietet eben Entschleunigung, und das im radikalsten Sinne. Sie inszeniert sich selbst nicht als Star des Abends, sondern als Teil des Ganzen. Würde man ihre niemals verwechselbaren Vocals nicht hören, könnte dort jede x-beliebige Person stehen, so entfremdet ist ihr Kostüm.

Hörbar sind die Fans und ihr Beifall trotzdem immer wieder. Björk selbst betrachtet Cornucopia mehr als immersive Theater-Performance, bei der bildende Kunst auf Musik trifft. Der Auftritt klingt und sieht aus wie eine komplett durchchoreografierte Aktion im New Yorker MOMA. Man grübelt ein wenig, man schmunzelt, man schaut verdutzt, gleichzeitig bleibt man aber dran kleben und ist von dem Aufwand schwer geflasht. Mit fantasie- und temporeichen Visuals werden Messages transportiert. Die stylischen Videos laufen auf der großen Leinwand, gleichzeitig aber auch auf einem transparenten Vorhang vor der Bühne. Björk ist manchmal gar nicht sichtbar, aber darum geht es eben auch nicht.

Stattdessen nächste Empfehlung: Die Lyrics einschalten! Die verleihen dem Spektakel eine weitere Note, um Bild und Ton besser übereinzukriegen. Neben dem bereits erwähnten riesigen Chor teilt sich die Isländerin die Bühne mit der Flöten-Formation Viibra, die dem Happening viel Leben und Spaß einhauchen. Sie tanzen rhythmisch zu den verschachtelten Klangsphären, sie heben und senken ihre Instrumente wie in einem Fluss, was sehr ästhetisch, aber dennoch musikalisch wirkt. Dazwischen gibt es abgefahrene Beats vom Musical Director Bergur Þórisson und Waterdrums (!) von Manu Delago. Wasser ist schließlich ein äußerst existenzielles Element und eignet sich hervorragend für ASMR-artige Spielerein wie in „Blissing Me“.

Auf „Medúlla“ gab es einst nur Stimmen und ihre Facetten zu hören. Damit der Song „Show Me Forgiveness“ auf der Setlist genauso gut funktioniert wie auf dem Album einst, steht eine sogenannte Hallkammer in Eiform auf der Bühne, in die sie sich zurückzieht, um A-cappella zu performen. Auch in „Features Creatures“ wird der schalldichte Miniraum erneut von ihr besucht. Besonders groß ist der Beifall dennoch bei den bekannteren Hits „Pagan Poetry“, „Isobel“ und „Hidden Place“. Allen voran fliegt „Pagan Poetry“ gänsehauterzeugend durch die Luft.

Nein, man checkt das nicht gänzlich, aber auch ohne das komplette Durchdringen tut Cornucopia Live irgendwie gut. Es braucht Zeit, Aufmerksamkeit, eine bequeme Sitzunterlage und die richtige Anlage, um sich gedanklich zu verlieren und tief zu entspannen. Hat man das aber erreicht, ist Björk wieder elfengleich. Schräg-schön und Alien-esque, sodass man nicht weiß, was eigentlich echt ist und was nicht. Ein bisschen Eskapismus schadet aber ja nie.

Und so hört sich das an:

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Die Rechte fürs Cover liegen bei ONE LITTLE INDEPENDENT/H’ART

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