Zu dem Song “Daddy” erzählt Annett Louisan eine sehr berührende Geschichte. Ihren leiblichen Vater lernte sie erst 2004 kennen, da war sie bereits 27. Bei einer Autogrammstunde. Ihre erste Erfolge durfte sie also schon feiern, war gerade auf dem Hoch ihres Ruhms – und plötzlich kommt zum ungelegensten Zeitpunkt überhaupt die Person daher, zu der aus auf ihrem Debütalbum sogar einen Song gibt. Diese und noch viele weitere sehr persönliche, nostalgische, intime, nachdenkliche und häufig melancholische Anekdoten erzählt die Wahl-Hamburgerin auf ihrer aktuellen Tour. 2024, exakt 20 Jahre später. 20 Jahre, nachdem sich mit “Bohème” in Windeseile ihr Leben nachhaltig veränderte.
Zum Glück wollte Annett schon immer Sängerin werden. Heute weiß sie besonders zu schätzen, dass sie in Songs Schicksalsschläge oder auch misslungene Beziehungen verarbeiten kann, was für sie ein Privileg darstellt. Eine Auswahl davon bringt sie am 21.12., einem Samstagabend, kurz vor Weihnachten mit in die Stadthalle in Mülheim an der Ruhr. Sie ist in den vergangenen Monaten viel getourt. Seit Anfang September sind über 20 Shows bereits passiert, den Abschluss bildet ein Bonuskonzert, das erst gute zwei Monate vorher angekündigt wird. Einige scheinen das Jubiläum bereits mit Annett gefeiert zu haben, gab es nämlich schon viermal in NRW die Gelegenheit, weswegen in der Stadt im Ruhrgebiet der theaterähnliche, hübsche Saal zu rund einem Drittel leerbleibt. Andererseits ist so knapp vor Weihnachten sowieso immer alles turbulent.
Doch die Gäste, die sich auf den bequemen Sitzen zurücklehnen, bringen bereits weihnachtliches Feeling in den Raum, das durch die Künstlerin völlig ungezwungen und ohne jegliche sichtbare Anstrengung verfeinert wird. Dabei singt Annett Louisan keinen einzigen Weihnachtssong, wie sie selbst sogar zur Anmoderation überzeugt ankündigt. Stattdessen ist es eben eine Abrundung von vielen Monaten voller Rückblicke. “Bohème” war damals das am schnellsten verkaufte deutsche Debüt, berichtet sie. In der vergangenen Zeit hat sie sich immer wieder hineingefühlt, wie das damals eigentlich alles war. Es war schnell, brisant und manchmal unabsichtlich komisch. Während einer Taxifahrt zum Flughafen zu jener Zeit läuft ihr Durchbruch “Das Spiel” im Radio. Der Taxifahrer erkennt sie nicht und lästert unverfroren über Song und Sängerin ab. Herrlich.
In den 100 Minuten, die durch eine Pause getrennt werden, gibt es aus dem Werk, das über eine halbe Million mal verkauft wurde, fast alle Titel zu hören. Es überrascht, wie gut doch ein Großteil aus “Bohème” gealtert ist, ohne altbacken oder gar peinlich zu wirken. Sowieso liegt es aber doch immer wieder an Annett Louisan, die federleicht durch den Raum fliegt. Sie hat diese ganz besonders sympathische Art, die sich so anfühlt, als ob man bei niedrigen Temperaturen auf der Decke eingekuschelt eine weihnachtliche RomCom auf Netflix guckt. Das ist süß und erwärmend, ein bisschen kitschig, dann auf einmal schrecklich traurig, lebensnah, völlig absurd, äußerst witzig und insgesamt einfach so schrecklich wholesome. Alle hören gespannt, konzentriert und beseelt zu und sie erzählt – mal nur mit gesprochenen Worten, dann wieder ganz melodisch.
Damit das alles überhaupt funktioniert, steht abermals eine ganz tolle Band hinter ihr, die nicht weniger als perfekt von der Tontechnik abgenommen wird. Haben wir das musikalische Erlebnis auch die letzten Jahre immer wieder gelobt (2023, 2022, 2019), so klingt die Jubiläumstour doch anders. Es wird loungiger, reduzierter, kleiner. In Mülheim gibt es den wunderbaren Martin Kelly an der akustischen und elektrischen Gitarre, mit dem sie schon sehr oft unterwegs war. Zusätzlich ergänzt wird das Trio hinter ihr aber durch Liv Solveig, die man häufiger an der Seite von Tristan Brusch sehen konnte und wirklich ganz viel Fingerspitzengefühl für ihre Performance an der Geige mitbringt, sowie durch Käthe Johanning am großen Steinway-Flügel, an dem sie immer wieder hübsche Läufe zwischenspielt. Wenn man etwas an der Mülheim-Show kritisieren mag, dann vielleicht, dass besonders zum Anfang des Konzerts in ein paar kleinen Momenten das Zusammenspiel nicht immer ganz rund wirkt. Annett kommuniziert sichtbar zwischen den Musiker*innen, sodass sich vieles schnell auflockert. Einzeln betrachtet sind aber alle drei an ihren Instrumenten ganz wunderbar und bringen auch mehrere prägnante Soli aus den Studioaufnahmen in abgewandelten Formen und in frischen Arrangements stimmig rüber.
Selbst für diejenigen, die bei einem der vorangegangenen NRW-Gigs dabei waren, gibt es etwas Unerwartetes, nämlich sowohl in der Besetzung der Instrumente als auch in der Setlist. Besonders mit “Belmondo” und “Eve” gibt es zwei äußerst beliebte Titel aus der mittlerweile sehr großen Annett-Diskografie, die mit viel Beifall positiv rückgemeldet werden. Andererseits wird das äußerst traurige “Ende Dezember” gekickt, das thematisch zum 21.12. ja doch ganz gut gepasst hätte. Ansonsten fühlt man sich aber mit dem lasziven “Die Katze” ein wenig betört, bekommt bei “Das Liebeslied” Schmetterlinge im Bauch, ohne selbst verliebt sein zu müssen, hat bei “Das Universum schlägt zurück” diese eine beschissene Person viel zu präsent vor Augen und geht mit “Bap bap bap bap bap ba da bap”-Ohrwurm nach Hause, weil “Drück die 1” zum wiederholten Male in den Zugaben einfach richtig gut geht.
Und weil das Leben schließlich ausmacht, dass es nie komplett planbar ist und immer etwas dazwischenkommt, so gerät der abschließende “Die schönsten Wege sind aus Holz” auf unfreiwillig kuriose Art aus den Fugen: Eigentlich möchte Annett Louisan in Mülheim einen rührenden Abschied mit feiner Lebensweisheits-Note servieren. Allerdings geht draußen vor der Tür ein riesiges Feuerwerk los, gibt es nämlich im benachbarten Raum eine große Firmenweihnachtsfeier. Erst denkt man, es sind knatschende Holztreppen, auf denen sich die ersten schon aus dem Staub machen, um nicht in den Parkplatzstau zu geraten – doch es ist ein erster Vorgeschmack auf Silvester. Wege sind vielseitig, Annett bringt ihre komprimiert auf die Bühne. Man glaubt es ihr einfach und hat 20 Jahre nach “Bohème” einiges nochmal mit ganz eigenen Erlebnissen neu gehört. “Ewigkeiten kommen und gehen”. Ein schönes, wichtiges Gefühl.
Und so hört sich das an:
Website / Instagram / Facebook / X
Foto von Christopher
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.