Plattenkrach: Vierkanttretlager – Die Natur greift an

Im heutigen Plattenkrach scheiden sich die Geister gar nicht unbedingt an der Musik, denn die kann im Falle der Indie-Rock-Band Vierkanttretlager beide Juroren begeistern. Aber während Andrea bei den Lyrics ins Schwärmen und Sinnieren gerät, denkt sich Yvonne einfach nur: “Das macht doch alles keinen Sinn!” Beide haben sich das 2012 erschienene Debütalbum “Die Natur greift an” nochmal ganz genau angehört.

Das denkt Andrea über das Album:

Wir machen eine Zeitreise in das Jahr 2012: Vier junge Männer aus Husum haben gerade ihr Abitur in den Taschen und könnten voller Hoffnung losziehen, um die Welt zu erkunden. Doch anstelle der Hoffnung scheinen sie eher Wut mit sich zu tragen und die muss raus. Das Ergebnis: Das Debütalbum „Die Natur greift an“ der Band Vierkanttretlager, das mich heute noch mindestens genauso begeistert wie damals.

Treibender Indie-Rock verbindet sich mit ausgefeilten Texten und schafft so eine ganz besondere Atmosphäre. Der Opener „Drei Mühlen“ gibt die Richtung der Platte bereits gut vor: raue Gitarrenriffs und ein druckvoller Basslauf weichen später einem melodischen Refrain, während Sänger Max Richard Leßmann davon singt, wie sich bei der benachbarten Windparkeinweihungsparty das Schein und Sein der ländlichen Idylle in Luft, blutige Nasen und Haareraufen auflöst. Laut und temporeich geht es in Tracks wie „Mein Ruf“ und „Zwischen den Zeilen“ weiter, bevor es später in „Schluss aus raus“ so richtig kracht. „Schluss aus raus, wir schließen, wir schließen ab mit unserer Zeit“ schreit der Song den Hörer*innen entgegen und hinterlässt das Gefühl, dass diese Welt wohl nicht mehr zu retten ist.

Doch auch den schönen Momenten wird auf dem Album ein Platz eingeräumt. Im beschwingten „Fotoalbum“ werden die guten Erinnerungen unter schunkelnder Akkordeonbegleitung eingeklebt, um letztendlich zwar vielleicht im Regal zu verstauben, aber immerhin sind sie da und bleiben es auch. „Hooligans“ bietet entgegen des Titels keine gewaltigen Ausbrüche, sondern leichte Melancholie zu entspannten Tönen und erzählt von Einsamkeit und dem Gefühl der Heimatlosigkeit. Prominente Unterstützung gibt es dafür von Casper, dessen Reibeisenstimme wie angegossen zum rauen Sound der Husumer passt. Abgerundet wird das Gesamtbild von den Mitsing-Indie-Nummern „Das neue Gold“ und „Nur die Sonne“.

Besonders hervorzuheben sind allerdings die letzten drei Titel des Albums. „Keine Menschen mehr“ scheint der qualvollen Existenz des Menschseins mit eindringlichen Gitarren ein Ende zu setzen. „In jedem seiner milden Blicke“ kommt ganz ohne Musik aus und besticht als rein gesprochenes Stück durch seine Poetik. Und in der Ballade „Gib dem Leben keinen Sinn“ hat das Quartett schließlich doch die Lösung für ihre Wut gefunden. Nur indem man dem Leben nämlich eben keinen Sinn gibt und ohne Zwang lebt, kann man scheinbar das Beste aus eben diesem herausholen.

Vierkanttretlager haben mit „Die Natur greift an“ ein beeindruckendes Debüt geliefert, dass nicht nur auf musikalischer Ebene überzeugt, sondern vor allem lyrisch immer wieder neue Ebenen und Deutungsmöglichkeiten aufzeigt. Die vier Musiker schaffen es, ihre Gefühle von grauer Tristesse über stürmischen Zynismus bis hin zur Seemannsromantik authentisch zu vermitteln und dabei weder zu trotzig noch zu altklug zu klingen. Und das ist gerade angesichts des jugendlichen Alters eine bemerkenswerte Leistung!

Und so sieht Yvonne das:

Ich war zunächst etwas verwundert darüber, dass ich heute als Contra-Stimme fungieren sollte, denn als Vierkanttretlager ihr Album im Jahr 2012 veröffentlicht hatten, habe ich es mir ganz gerne angehört und auch einige Liveauftritte der Band besucht. Doch obwohl ich “Die Natur greift an” nie wirklich schlecht fand, gefiel es mir irgendwie aber auch nicht gut genug, um die Songs dauerhaft in meine Playlist aufzunehmen. Es war daher das erste Mal seit fast 7 Jahren, dass ich die Lieder nun wieder höre.

Was mir als erstes in den Sinn kommt, als die noch vertrauten Klänge zu “Drei Mühlen” das Album eröffnen, ist tatsächlich: hä, sind das nicht Von Wegen Lisbeth? Doch irgendwie wirken Vierkanttretlager eher wie eine Seniorenversion von VWL, denn während diese ihre Stammkneipe besingen, widmen sich Vierkanttretlager stattdessen einer Windparkeinweihungsparty. Achso, ja, besuche ich auch desöfteren.

Genau da liegt mein Problem mit “Die Natur greift an“, denn irgendwie kann ich mit den verworrenen Lyrics des Albums einfach so rein gar nichts anfangen. Vielleicht muss man hier stärker zwischen den Zeilen lesen, doch Texte wie “Halt meine Hand fest / sonst rutscht sie aus / sonst rutscht sie aus / auf meinem Ruf” geben mir leider relativ wenig. Richtig unangenehm wird es dann noch bei “In jedem seiner milden Blicke“, in dem Sänger Max Richard Leßmann kurzerhand zum Märchenonkel mutiert und fast eine Minute lang mit träge gesprochenen Worten die musikalische Dynamik des Albums zerstört. Dabei ist die musikalische Seite auf “Die Natur greift an” eigentlich echt gelungen, denn die melancholischen Indie-Melodien harmonieren hier perfekt mit einer sehr angenehmen Singstimme.

Am meisten in Erinnerung geblieben sind mir nach all den Jahren aber vor allem die Single “Fotoalbum” mit seinem ungewöhnlichen Akkordeon, und “Hooligans” – das sehr gelungene Feature mit Casper. Vierkanttretlager beenden ihre Platte nach zwölf Songs (bzw. elf Songs und der Märchenminute) mit einer ganz besonderen Lebensweisheit: “Sag nie du weißt genau wohin / Gib deinem Leben keinen Sinn“. Ja okay, aber für mich ergibt leider auch dieses Album einfach keinen Sinn.

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Mehr Plattenkrach: Hate it or love it – was für den einen ein lebensveränderndes Monumentalwerk ist, ist für die andere nur einen Stirnrunzler wert! Ein Album, zwei Autor*innen, ein Artikel, zwei Meinungen! Mehr Auseinandersetzungen findest du hier.

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