So war das Eurosonic Noorderslag 2024: Europa, deine Newcomer*innen

Sonnenbrand, Campingstühle, Unwetterwarnungen: Wer an Festivals denkt, hat wohl eher diese üblichen Assoziationen im Kopf als gefrorene Böden, Schlange stehen vor Clubs und dicke Winterjacken. Dennoch ist das Eurosonic Noorderslag in Groningen schon seit 1986 das Kick-off-Event des europäischen Festivaljahres. Genau wie die Schwesternfestivals SXSW und Reeperbahnfestival wird auch das Eurosonic Noorderslag als Showcase Event veranstaltet. Heißt: In diversen Spielstätten im gesamten Stadtgebiet vom niederländischen Groningen finden die unterschiedlichsten Acts eine Bühne. Mit dem Kauf des Tickets können sich die Besucher*innen dabei für einen oder mehrere Tage Zugang zu allen Shows gönnen. Der Fokus beim ESNS ist dabei zweigeteilt: Von Mittwoch bis Freitag spielen beim Eurosonic Newcomer*innen aus ganz Europa, am Samstag kommen beim Noorderslag dann nur die niederländischen Acts zum Zug. Ein Besuch beim Liebhaber-Festival.

Weniger Industrie, mehr Stimmung

„You head it first at ESNS“ ist der offizielle Slogan des diesjährigen Festivals – und genau so klingt auch das Line-up. Nur sehr wenige Acts können über bemerkenswerte Streamingzahlen verweisen, die meisten stehen am Anfang ihrer Karriere. Mit einem geschmack- und liebevollen Booking schafft es das ESNS-Team aber dennoch, ein Programm voller Hochkaräter zusammenzustellen. Das Line-up ist musikalisch wie auch rein personell divers, vom wilden Garage-Punk über lupenreinen Pop, von folkloristischem Kitsch bis zu schnörkellosem Eurodance, von abgedrehtem Jazz bis gefühlvollem Singer-Songwriter ist wirklich alles dabei. Und das alles in einer ausnahmslos großartigen Qualität.

Dieser intensiven Arbeit, die hinter so einem Line-up der hoffnungsvollen No Names steckt, müssen sich die Besucher*innen des ESNS aber auch bewusst sein – mit 180€ für alle vier Tage ist das Festival-Ticket nämlich nicht gerade preiswert. Insbesondere nicht in Anbetracht dessen, dass hier keinerlei Garantie auf ein Konzert des Lieblingsacts besteht. Schließlich haben alle Clubs begrenzte Kapazitäten und so kommt es gerade bei den besonders heiß gehandelten Acts vor, dass schon 20 Minuten vor Beginn ein Einlassstopp verhängt wird. Dass dann auch noch Acts in den verschiedenen Spielstätten größtenteils parallel spielen, macht die Sache nicht leichter: Kommt man beim einen Konzert nicht rein, ist bis zur Ankunft bei der nächsten Venue schon das halbe Konzert vorbei.

Die Acts spielen durchschnittlich nämlich alle nur 30-40 Minuten, die Spielstätten liegen zu Fuß von 2-20 Minuten sehr unterschiedlich weit voneinander entfernt. Gerade bei Schneematsche und Glatteis wenig spaßig. Bedeutet: Ziemlich viel Planung, die immerhin mit der sehr guten App etwas leichter von der Hand geht. Bei den Konzerten selbst ist dann alles top, vom Sound über den Einlass bis zur Bühne und der Bezahlung mit dem Festivalbändchen gibt es nichts zu meckern. Nur bei einer doch sehr entscheidenden Sache darf gemeckert werden.

Das Publikum ist über weite Teile genau so, wie man sich ein Industrie-Publikum vorstellt. Im negativen Sinne. Die meisten Acts legen hier wirklich großartige Performances hin – das Publikum bleibt ruhig, applaudiert kaum, bewegt sich nicht, wirkt fast desinteressiert. Auch wenn nicht alle Besucher*innen selbst Teil der Musikindustrie sind, so wünscht man sich doch für die Musiker*innen ein besseres Publikum. Sie hätten es verdient. Wie viel besser es laufen kann, erlebt man nämlich genau dann, wenn es zu den kostenlosen und für alle Leute frei zugänglichen Programmpunkte übergeht: dem Eurosonic Air-Zelt und den kurzen Gigs im Plattenladen Plato. Bei einer anderen Preispolitik wäre sicherlich auch hier ein Wandel im Publikum möglich. Ich mein‘ ja nur.

Mittwoch: Worst Case & Hoffnungsschimmer

Bluai spielen ihren melodischen Folk als starkes Team

Etwas unbehelligt und von den verhältnismäßig kurzen Laufwegen beim Reeperbahn Festival geblendet, starten wir den Mittwoch noch unbescholten. Das führt dazu, dass bis auf die wirklich schöne niederländische Folk-Band Bluai nicht viel zu sehen ist. Alle Venues sind voll, die Schlangen vor den Hallen dito, der Frust wächst da entsprechend schnell.

Ein paar Highlights gab es aber auch am Mittwoch zu sehen:

  • Bluai (NL) @ Lutherse Kerk: Ganz lieber Folk für Fans der Middle Kids, das breite Grinsen der Bandmitglieder ist die Kirsche auf der musikalisch wunderschönen Sahnetorte. Könnte im Rahmen der aktuellen Folk-Welle durchaus auch international Anklang finden.
  • Get Jealous (DE) @ Maas – Front: Pickepackevolles Maas, das von unseren Lieblingen von Get Jealous ein absurd gutes Set zu hören bekommt. Kein Wunder, das Debütalbum der Band ist auch einfach voll mit Bangern. Melodischer Indie-Punk mit queerem Anschlag. Lieben wir einfach.
  • Chalk (IE) @ Vera: atmosphärisch düsterer Noise-Punk mit einem permanent bedrohlichen Druck im Nacken. Das Publikum staut sich auch hier & live funktioniert das schon jetzt auch vor deutlich größeren Hallen. Hype-Faktor: Sehr hoch.
  • Leatherette (IT) @ Vera: rhythmischer und vielschichtiger Post-Punk mit großartigem Saxophon-Einsatz. Die italienischen Noise-Cousins von Squid.

Donnerstag: Highlight jagt Highlight

Pip Blom machen Indie zum Instant-Fan-Werden.

Man möchte sich am liebsten aufsplitten – denn bei der besseren Vorbereitung fällt noch einmal mehr auf, wie viele wirklich spannende Acts hier wirklich im Line-up stehen. Aber eine Entscheidung muss ja her & so steht am Ende des Tages eine Reihe von Mini-Konzerten in der Erinnerungsbox, die wirklich durch die Bank großartig waren. Bulgarian Cartrader, der zuvor mit Seeed Musik machte, jetzt aber mit seinem Solo-Projekt durch die Decke geht und an diesem Abend auch den Music Moves Europe-Award gewinnt, holt mich persönlich musikalisch nicht 100%ig ab, ist aber ganz klar herausragend komponiert und stimmlich einzigartig.

Die Highlights vom Donnerstag:

  • Lambrini Girls (UK – EN) @ Platosonic: Riot Grrrl Punk der alten Schule: Es geht natürlich gegens Patriarchat, gegen Polizeigewalt, für Selbstbestimmung. Und das mit schnörkellosem Punk, großen Hooks und eigentlich verbotenem Stagediving im Plattenladen. Top!
  • Monte Mai (CH) @ Lutherse Kerk: Ungewöhnlicher Mix aus Stilen, runtergebrochen aber sphäriger Indie-Pop mit ganz viel Melodie und Synthies. Vorgetragen von einem eingespielten Trio, das die Waage zwischen Coolness und Gefühl hält wie die ganz Großen.
  • Pip Blom (NL) @ Maas – Main: Eine der besten Indie-Acts der Niederlanden spielen ihre Songs heute elektronischer als auf Platte, was live definitv funktioniert. An dieser Stelle: Unbedingte Hörempfehlung für alle, die ein Herz für gute Melodien haben.
  • Ana Lua Calano (ES) @ Mutua Fides: Nur kurz reingeschlinst, aber direkt begeistert: Calano kombiniert folkloristische Ansätze mit dicken Housebeats und schafft dabei etwas ganz Eigenes, was ohne Frage sowohl für Indie- als auch für Hollywood-Filme taugen würde.
  • Kalush Orchestra (UA) @ ESNS Air: Die ESC-Gewinner von 2022 haben nicht nur die Gänsehaut-Garantie mit „Stefania“ im Gepäck, sondern auch jede Menge andere große Tracks. Choreos, Songs, Show, Stimmung – alles ist hier einfach eine 10/10. Was für eine Band!

Freitag: Acts für große Bühnen

Lynks ist gesetzt für die ganz großen Festivals.

Mit dem letzten Eurosonic-Tag kommt auch die Routine: Die meisten Gehwege sind bekannt, der Turnus, um genau rechtzeitig bei den Acts anzukommen, ist drin, genauso wie der Bestellvorgang des Kaassoufflee-Brötchens beim legendären Snack Corner. Beim großen Abschluss kommen dafür dann auch direkt die Acts auf die Bühne, die den Sprung auf die oberen Festival Line-ups mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bald schaffen werden.

Die Highlights am Freitag:

  • English Teacher (GB – ENG): Auch wenn die Schlange zu lang ist und wir nicht reinkommen – fast über keine Band wird aktuell so viel gesprochen, jeder Song ein Banger, das Warten auf das Debüt unerträglich. Darf hier also nicht fehlen.
  • Sharktank (AT) @ Wenutbutter: Mit dem Debüt bereits unzählige Indie-Herzen gebrochen & auch live ist der eigenwillige Mix aus 00er Pop und zackigem Rap unkaputtbar. Starke Songs, starke Performance, schlechtes Publikum.
  • Lynks (GB – ENG): Elton John hatte ihn schon in seiner Hot List – Lynks macht queeren Synth-Pop mit Punk-Attitüde, covert mal eben Courtney Barnett und sorgt mit den irren Choreos für den größten Headliner-Auftritt des Festivals. See you beim nächsten großen Gig.

Samstag: Das Noorderslag präsentiert die Hot Picks der Niederlande

Absurd guter Sound: Sophie Straat macht Gesellschaftskritik in absolut einzigartiger Form.

Szenenwechsel zum Ende: Das Noorderslag fokussiert sich nicht nur auf die niederländische Musikwelt, sondern auch auf einen Austragungsort. Statt also wie zuvor durch die gesamte Stadt zu tingeln, werden die beeindruckend schönen und vielseitigen Säle des Osterpoorts ausgecheckt. Ein wahnsinnig beeindruckendes und schönes Gebäude inklusive Top-Organisation, köstlichem Essen und wirklich tollem ESNS-Branding. Wir sind definitiv als Deutsche in der Minderheit, das Publikum ist an diesem Tag dafür aber auch merklich jünger und diverser als an den vorigen Tagen. Los geht’s!

Die Highlights am Samstag:

  • Sarah Julia: Weirder Name für eine Band, die wirklich viel Potential hat. Schon vor (!) dem ersten Single-Release hat das Duo über 100k Insta-Follower*innen, der Auftritt erklärt, warum. Das sind also die folkigen Cousinen von Boygenius! Tolle Harmonien & gefühlvolles Songwriting. Ganz groß.
  • Sophie Straat: WTF? Ska-Folk-Musical-Punk-Indie mit ganz viel Gesellschaftskritik, ganz viel Bühnenpräsenz und ganz viel Ärger-Potential für die Konservativen im Publikum. Mit Bläsern & Streichern gegen die kaputten Systeme. Fan ab jetzt.
  • Froukje: Aktuell frisch auf Platz 1 der Album-Charts in NL, weltweit sogar auf Platz 9. Alles mehr als verdient, denn Froukjes Synth-Pop ist einfach wahnsinnig gut komponiert, immer wieder breit gefächert und rhythmisch ohne Ende.
  • Claude: Gefühle, Stimmung, Stimme – hier ist alles auf Anschlag. Wer bei diesem Dauergrinsen und seiner großartigen Band nicht gute Laune bekommt und erkennt, dass hier Versatzstücke von Stromae und Frank Ocean in französischer Leichtigkeit zusammenkommen, muss die Ohren putzen.

Es ist also klar: Man muss schon Lust haben auf so ein Festival, auf die Orga, das Laufen, die Kälte. Aber gerade für alle Nerds, die eben den Spruch ‚You heard it first‘ direkt mitfühlen wollen, ist das hier einfach der Place to Be. Welche der über 250 Acts am Ende wirklich die Headliner-Slots der nächsten Festivals bestimmen? Es bleibt spannend. Spaß gemacht hat die Entdeckungsreise aber so oder so. Gerne wieder.

Und so sah das Ganze aus:

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Bilder von Julia.

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