Es hätte ein typisch-tragisches Hurricane-Wochenende werden können als es am frühen Freitagabend heftig zu regnen beginnt. Immerhin trägt das jährlich tief im Norden stattfindende Festival eine Naturgewalt bereits im Namen. Das Wetter in der Gegend jedenfalls gilt als unberechenbar. Schon die 2016er-Ausgabe musste wegen nicht enden wollender Regenmassen frühzeitig abgebrochen werden. Denn der Scheeßeler Eichenring – Austragungsort des Hurricane sowie einiger Motorradrennen – und das umliegenden zu Campingflächen umfunktionierte Ackerland verwandeln sich flugs in sumpfige Matschlandschaften, die nur mit Gummistiefeln zu bewandern sind.
Duschenähnlich senken sich also Wassermassen auf das Gelände hinab. Die Idles, die gerade die Hauptbühne bespielen, lassen sich davon kaum beirren. “Ich dachte wir sind auf einem Festival? Bringt das Equipment ins Trockene, wir spielen weiter”, entgegnet Joe Talbot entgeistert als den Briten kurzzeitig der Sound abgestellt wird. Die Band dann bringt ihr (wohlgemerkt fantastisches) Set aus neu und alt souverän zu ende. Die Kooks währenddessen fallen dem Starkregen zum Opfer. Das Equipment stünde unter Wasser, heißt es. Heftiger Regen und erste Absagen, es hätte also schlimm kommen können. Doch kommt es nicht. Der Regen beschränkt sich bis auf wenige Ausnahmen auf ein dreistündiges Zeitfenster und das restliche Wochenende bleibt das Wetter stabil festivaltauglich. Nach und nach verwandelt die Sonne so den Schlamm zurück in Erde, sodass lediglich der penetrante Geruch von alkoholgetränktem Grund bleibt.
Alkohol jedenfalls wird gewohnt viel konsumiert. Flunkyball, Biermesse und Co. sind für so Manche feste Highlights fernab des Musikprograms. Alkoholleichen sind jedoch glücklicherweise eine Rarität – zumindest auf den mittlerweile “Hurricane Park” genannten Green Camping-Bereichen. Immer größer wird dem Eindruck entsprechend auch die Fläche, die für diese etwas ruhigeren, gesitteteren Campingflächen bereitgestellt wird. Leider liegen diese mittlerweile etwas unglücklich zwischen Zeltbühne und WoMo-Camping und wird entsprechend von zwei Seiten beschallt. Von Zen-Ruhe und Glamping bleibt die Erfahrung demnach weit entfernt. Für Festivalverhältnisse ist sie dennoch komfortabel. Die Schlangen vor Duschen (insgesamt 420 Stück) und Toiletten (etwa 700 gespült sowie 1200 Dixies) sind vertretbar. Und auch die Müllmassen absolut okay (selbst nach Abreise bleiben nur vereinzelt zerstörte Zelte und Pavillons zurück).
Wer zu viel Geld hat, kann außerdem für den doppelten Preis in das “Resort Camping” samt komfortableren Sanitäranlagen und befestigten Wegen umsiedeln. Auf dem Festivalgelände dann jedoch, sind das überprivilegierte Volk, Tagesbesucher und normale Camper (78.000 an der Zahl) gleichgestellt. Die Wartezeit an den Toiletten und den 42 Essensständen (viel vegane Auswahl, keine große Ketten) jedoch sind human. Kaum anstehen muss man auch an den Stationen, an denen kostenfrei Trinkwasser aufgefüllt werden kann. Die Infrastruktur also funktioniert. Einzig das Angebot des mobilen Supermarktes, des sogenannten Festivalshops, enttäuscht. Entsprechend schlecht besucht bleibt dieser.
Konträr zur gähnenden Leere im Anstehbereich des Festivalshops, wird es bei den musikalischen Headlinern so richtig voll. Besonders mitreißend verwandeln Bring Me The Horizon und ihre dystopische KI Eve zum Abschluss am Sonntagabend den Eichenring in einen einzigen großen Moshpit. Frontmann Oli Sykes ist sichtlich angetan und nimmt sich zwischen imposanter Laser- und Feuershow gar Zeit einen Song gemeinsam mit seinem Papa zu performen. Das rausgerutschte “Southside” ist bei einer solch fulminanten Show schnell vergessen. Auch K.I.Z bringen am Abend vorher ordentlich Party und dirigieren zwischen Influencer-Chor und Podest-Bühne gekonnt die nicht enden wollende Menschenmasse. Immerhin: Es gibt etwas zu feiern, denn am Vortag erschienen gleich zwei neue Alben des Rap-Trios. Etwas mehr verläuft sich die Stimmung am Freitag bei Ed Sheeran. Der händelt solch große Mengen an Menschen zwar mit Links, spielt aber mindestens einen Pseudo-Rap-Song zu viel. Beeindruckend bleibt dennoch, wie präzise der rotschopfige Brite einzig mit Loopstation und Instrumenten große von Feuerwerk unterlegte Pop-Momente herbei konstruiert.
Funken fliegen nicht nur am späten Abend. Ski Aggu kann es selbst gar nicht fassen, wie viele Menschen sich am Freitagnachmittag bereits vor der zweiten Bühne eingefunden haben. Belohnt werden sie mit einer partyträchtigen Dreiviertelstunde samt Gastauftritten von Zartmann und Ritter Lean. Und auch Paula Hartmann hat einen “I made it”-Moment als sie tags drauf von der kleineren, doch komplett überlaufenen Mountain Stage auf die Masse hinabblickt. Sie wär bei ihren Konzerten sonst derart auf ihre Performance fokussiert, heute sei sie jedoch das erste Mal wirklich im Moment, wird sie später zu Tränen gerührt erzählen. Der anschließende Applaus möchte niemals enden. Knapp eine Stunde zuvor übernehmen die Leoniden selbstsicher die symbolische Hurricane-Herrschaft. Schrittweise haben sich die Kieler*innen von der Warmup-Party hin zur Hauptbühne gespielt und lassen nun zehntausende Körper von rechts nach links hüpfen.
Treiben Ski Aggu und Paula Hartmann bereits mitten im Hype, so stehen anderenorts wohlmöglich die Stars von Morgen auf der Bühne. The Last Dinner Party etwa verzaubern im Zelt, der kleinsten Bühne, mit ihrem hochgelobten Debüt und einem Sound zwischen Indie, Pop und Rock. Die völlige Ekstase gibt es hier zwar nicht, dafür aber Begeisterungsstürme nach den Songs und enormes Potential. Erst das zweite Mal spielen die Londonerinnen “The Killer”, eine bislang unveröffentlichte Indie-Brett und sicherlich zukünftiger Hit. Und auch Fontaines D.C. haben Material im Rücken, das sie noch höher katapultieren wird. “Romance” heißt das zugehörige Projekt, das im August erscheinen wird und bereits mit drei Songs vertreten ist. Es wird das Album ihrer Karriere, das weiß die Band, die sich in Rockstarmanier bereits hinter Sonnenbrillen versteckt und souverän und mitreißend spielt. Auch Sprints zeigen am Samstagmorgen mit Songs über Queerness und Feminismus, wo die Zukunft des Punks liegt.
Zu den Jungen gesellt sich zudem eine ganze Riege an Nostalgie-Acts wie Sum41 oder Simple Plan. Avril Lavigne ist sogar quasi Headlinerin und zieht so viele Menschen vor die zweite Bühne wie niemand anderes. Auch wenn die Produktion und auch der Sound wenig Headline-würdig sind, die Songs sind es allemal. Und so schallt der Chorus von “Complicated” aus tausenden Kehlen über den Platz. So gar nicht rückwärtsgewandt ist der Hardcore-Indie-Querschlag von Turnstile, der zwar nicht im Ansatz so viele Menschen vor die Hauptbühne zerrt, dafür eine einzigartige Energie beschwört. Wär das Genre Party-Hardcore ein Ding, Turnstile wären die Anführer dieser Bewegung. Pünktlich zum Beginn von Lavignes Set ist dann bereits nach 55 Minuten Schluss. Mehr hätte niemand glimpflich überstanden.
Enttäuschungen gibt es derweil wenige. Lediglich Pashanim lässt jegliche Spannung verfliegen, indem er zwischen den Songs immer wieder hinter der Bühne verschwindet und Ansagen fast vollständig von DJ und Backup übernehmen lässt. Als es dann als Zugabe eine zweite Runde “Airwaves”, “Shababs Botten” und “Mrs. Jackson” gibt beginnt die Massenwanderung zurück zu den anderen Bühnen. So wie es das Wetter bei einer Runde Starkregen belässt, bleibt es bei dieser einen Enttäuschung. Glück gehabt.
Das Hurricane Festival findet 2025 vom 20.-22.06. statt. Tickets gibt es hier.
Mehr zum Hurricane Festival gibt es hier.
Und so sah das 2023 aus:
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Beitragsbild von Jonas Horn.
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