Vier Tage im Jahr ist in Hamburg alles anders. Denn dann stellt das Reeperbahn Festival die ohnehin schon sehr lebhafte Hansestadt komplett auf den Kopf. Beim größten Clubfestival Europas zieht es zu den rund 600 Acts in 90 Locations auch in der dreizehnten Ausgabe nicht nur quasi die gesamte Musikindustrie – sondern auch immer mehr Fans. Wie harmonieren das stetige Wachstum mit dem bewussten Verzicht auf große Headliner und kommerzielle Acts? Und wieso ist das Reeperbahn Festival eigentlich so ein gelungener Gegenentwurf zu den Big-Playern des Sommers?
© Dario Dumancic
Die fast perfekte Planung
Zunächst einmal sorgt schon die gesamte Organisation für Begeisterung. Denn wo andere Festivals bereits mit einer klassischen Einlass-Kontrolle vor Betreten des Festivalgeländes überfordert scheinen, funktionieren die Sicherheitsmaßnahmen in allen Locations zu allen Tageszeiten an allen Festivaltagen gleichermaßen gründlich und zügig. Als Nicht-Hamburger*in ist muss man sich seinen Weg aber erstmal überhaupt zu diesen bahnen, was bei diesem großen Angebot an Spielstätten gar nicht so einfach ist. Zwar befinden sich die meisten Spielorte grob um die Reeperbahn herum, doch Laufwege können bei häufigen Wechseln dennoch schnell zusammenkommen: Bei mir waren es knapp 17 Kilometer pro Tag. Einziges Manko ist hier die App, deren Navigationssystem stets versagt, die zudem oft abstürzt und nicht sehr übersichtlich gestaltet ist – bei einem Festival mit einem solchen Organisationsbedarf also definitiv ein wichtiger Verbesserungspunkt!
Neben einem vorzüglichen, überwiegenden Bio-Angebot an Speisen und Getränken fungiert der Spielbudenplatz im Herzen der Reeperbahn mit einer kleinen Künstler-Ausstellung und einzelnen Open-Air-Bühnen als Dreh- und Angelpunkt für alle Besucher*innen. Da hier aber auch alle Passant*innen Zutritt haben, bietet sich zum erholsamen Rückzugsort vom Trubel eher das Festival Village (Foto) an, das mit einer Rollschuhbahn, einer eigenen Bühne und Räumen zum Ausprobieren und Filme schauen ein sehr buntes Angebot in petto hat. Doch kommen wir zum Kern der Sache und hier muss sich deutlich bewusst gemacht werden: Bei einem derart großen Angebot an Auftritten muss selektiert werden, daher ist der folgende Bericht nur einer von Hunderten Möglichkeiten. Überhaupt stehen neben dem musikalischen Angebot auch noch unzählige interessante Workshops, Preisverleihungen und Panels zur Auswahl – doch für das persönliche Festivaldebüt soll es zunächst rein um die Konzerte gehen. So war also mein Reeperbahn-Festival:
Mittwoch: Einstieg zwischen gigantisch und genügsam
Schon die Schlange für die eröffnende Doors Open Show (Foto) ist ellenlang, so dass mir die Reeperbahn-App zum ersten Mal das anzeigt, was mich die nächsten Tage begleiten wird: “Einlassstopp”: Umso größer die Freude, zu den Glücklichen zu gehören, die es hereingeschafft haben, denn im Stage Operettenhaus kann sich so richtig schön auf das Festival eingestimmt werden. Die Moderator*innen Ray Cokes und Charlotte Roche führen mit Witz und Kompetenz in die Kernelemente des Kultur-Festivals ein: Vor allem das Partnerland Australien und die Keychange-Foundation stehen in diesem Jahr im Fokus. Ansonsten wird noch die namhafte Jury des Festival eigenen Anchor-Award vorgestellt, die aus den Produzentenlegenden Bob Rock und Tony Visconti, Kate Nash, Peaches, Beatsteaks-Frontmann Arnim Teutoburg-Weiss und Radiomoderatorin Zan Rowe zusammengesetzt ist. Erstklassige musikalische Darbietungen werden von Feist und Dope Lemon vorgestellt, die am späteren Abend noch ebenjene Bühne mit langen Sets bespielen werden. Schon hier schafft das Festival es, trotz ansprechender Gestaltung und Professionalität auf den Punkt zu kommen und nicht lang um den heißen Brei zu reden, denn die Reden und anwesenden Gäste mit hohem Rang beweisen auch ohne großen Firlefanz direkt: Dieses Festival hat kulturelle Relevanz.
© Marvin Contessi
Davon überzeugen wir uns dann auch gleich und machen uns auf den Weg in das Molotow, das uns dieses Jahr am häufigsten als Spielort dient und schrecklicherweise kurz vor der Schließung steht. An dieser Stelle schonmal: Das Molotow muss bleiben – keine Diskussion! Im schön geschmückten Backyard verzaubert Mattiel vor unangepassten Retro-Klängen und sorgt mit einer außergewöhnlich dunklen Stimme inklusiver ungewohnter Intonation für den ersten Lichtblick des Festivals: Was für ein Ausnahmetalent! Schon geht’s nebenan in den Irish Pub Thomas Read, wo die zauberhafte Ilse DeLange ihr halbstündiges Set im Rahmen des Country-Abends spielen darf. Die Hälfte der Common Linnets (ihr wisst schon – “Calm After The Storm”) ist in den Niederlanden auch solo wahsinnig erfolgreich und wünscht sich das nun auch für Deutschland. Ihre unwiderstehlich freundliche Art und der melancholische Country machen definitiv schnell Lust auf mehr und lassen den gesamten Saal mit einem Lächeln in den restlichen Abend starten. In den Docks, einem der größten Veranstaltungsräume des Festivals, versammeln sich die Leute am späten Abend bereits für die Leoniden (Foto), die mal wieder beweisen, dass sie momentan zurecht zu den beliebtesten Livebands des Landes gehören – die Massen eskalieren und singen treu jedes Wort mit. Ein Quasi-Headliner, der seine Rolle Show für Show perfektioniert.
© Christoph Eisenmenger
Donnerstag: Neue Namen und der Soundtrack zur Apokalypse
Nachdem man sich am ersten Tag schon etwas eingegrovt hat, steigt die Vorfreude auf den zweiten Tag enorm. Doch so viel muss man sich schnell klarmachen: Bei so vielen grandiosen Acts verpasst man IMMER einen riesigen Haufen, der sehr weh tut. Entscheidungen müssen getroffen werden und das zeigt sich gerade am Donnerstag als wahre Herausforderung; denn hinter jeder Ecke wartet etwas ganz Besonderes. Mittags ist es erst einmal wieder Zeit für das Molotow, das mittags dem Dutch Impact Raum bietet: Hier stellten sich acht hochinteressante Bands aus den Niederlanden vor. Dabei ist der hochklassige Soul von Jeangu Macrooy nicht weniger beeindruckend als der melancholische Pop von Someone. Nach Besuchen bei den postrockigen Soundflächen der Italiener*innen Be Forest. und dem malerischen Dream Pop von Say Yes Dog auf der Open-Air-Bühne von Viva Con Aqua gibt es einen kleinen Abstecher in die Kirche – zum “Kein Poetry Slam”, der mal eben richtige Hochkaräter der Kunstform versammelt. Gut ausgeruht und mit Lust auf mehr Musik geht es in den proppevollen Nochtspeicher, wo Drahla ihren atmosphärischen Mathrock präsentieren. Obwohl das Quartett für den Festival eigenen Anchor-Award als bester Newcomer-Liveact nominiert ist, kann ich hier die Faszination nicht ganz nachvollziehen, dafür ziehen mich die Live-Qualitäten der Band einfach zu wenig in den Bann. Ganz in der Nähe zelebrieren hingegen MIA. ihr Comeback, bei dem die Band ihren Befreiungsschlag von den vergangenen Jahren mit vielen neuen Songs und grandiosen Klassikern gestaltet. Fans und Band werden sich schnell einig: Schön, dass sie wieder da sind! Das absolute Kontrastprogramm folgt direkt bei den Isländern Hatari, die erst vor wenigen Monaten mit ihrem skurrilen BDSM-Industrial für einen denkwürdigen Auftritt beim ESC gesorgt hatten. Dass das Trio viel mehr drauf hat als nur den gezielten Schockmoment beweist der für mich persönlich beste Auftritt des Festivals: Mit einem Apokalypsen-Szenario inklusive deutscher Ansage, einem distanziert-wütenden Auftreten und druckvollen Soundwänden überwindet die sperrige Musik jede Sprachbarriere mit links und sorgt für Begeisterungsstürme. Ganz so überzeugen können die Brit*innen Bloxx im Anschluss dann mit ihrem etwas eindimensionalem Alternative leider nicht. Dafür sorgen parallel noch Thees Uhlmann und Mando Diao – wohl kaum eine Überraschung – schon sehr früh für den Einlassstop und für sehr zufriedene Berichte in den folgenden Tagen.
© Marvin Contessi
Freitag: Unverhoffte Planänderungen mit alten Bekannten
Am 20. September geht es erstmal für 100.000 Menschen im Rahmen von “Fridays For Future” auf die Straßen, da muss das Festival für die größere Sachen eben warten – Auch wenn das wegen des zu der Zeit des Klimastreiks statt findenden Aussie BBQ mit vielen tollen Acts sehr weh tut. Dafür schaffen wir es an diesem Tag endlich zur vielseits gelobten Kunstinstallation der außergewöhnlichen Künstlerin Peaches, die unter dem Titel “Whose Jizz Is This?” im Kunstverein Hamburg die ungewöhnliche Geschichte der Emanzipation von Sexspielzeugen erzählt. Kaum zurück auf der Reeperbahn, um die sehr drastischen Darstellungen zu verarbeiten, zieht plötzlich ein ungewöhnlicher Wagen über die Straße und verkündet mit in weißen Overalls gekleideten Männern: Heute Abend spielen Deichkind eine Surprise-Show am Millerntorstadion. Schon am gestrigen Tag hatte das Solo-Projekt von Kraftklub-Frontmann Felix Brummer Kummer eine kleine Session zu seinem Debüt gestartet – und jetzt auch noch die größte Party-Band Deutschlands? Das lassen wir uns natürlich nicht entgehen und können schon so viel verraten: Live reißen die neuen Songs nicht weniger mit als die alten Klassiker. Schade nur, dass dadurch Auftritte der Algiers und We Were Promised Jetpacks ausfallen müssen, denn man ahnt es schon: Einlassstopp. Gerade am Wochenende werden diese noch viel häufiger ausgerufen, doch immerhin warten dennoch gleich drei wunderbare Auftritte auf uns. Zum einen von Newcomerin Alli Neumann, die sich mit einer beeindruckenden Stimme und Performance schon jetzt mit den Landes-Indiepop-Größen messen kann (was die proppevolle Große Freiheit beweist), zum anderen von unseren liebsten Indie-Punk-Australier*innen Press Club, bei denen Frontfrau Natalie trotz Verletzung noch einmal alles gibt, bevor am Tag danach schon die Absage der restlichen Termine folgt. Einer von drei grandiosen Auftritten, die die Band beim Reeperbahn Festival spielen darf – zurecht! Mit ihrem Clash aus Gesellschaftskritik und brummenden Beats entlassen uns Frittenbudetanzend in die Nacht.
© Florian Trykowski
Samstag: Krasse Kontraste und die ganz großen Momente
Dafür, dass die Tagestickets für den Samstag am teuersten waren, hat das Programm merkwürdigerweise deutlich mehr Lücken ohne spannende Bands, was aber nicht bedeuten soll, dass der Tagesablauf reibungsloser verläuft als zuvor: Selbst für so kleine Bands wie Squid gibt es den allseits bekannten Einlassstopp, denn die Menschenmassen vergrößeren sich proportional zum Ticketpreis immens. Dann doch im Molotow angekommen, übt der abstrus getaktete Mathrock-Entwurf inklusive Trompeten und diversen Rhythmusinstrumenten einen unwiderstehlichen Sog aus. Nicht weniger spektakulär ist auch der Auftritt der Folk-Durchstarter The Gardener & The Tree, die ihren offensichtlichen Idolen Mumford & Sons mit viel Hingabe nacheifern. Denn mit dieser Reibeisen-Stimme funktionieren die großen Balladen genau so wie tanzbare Hymnen – und die Menschen lieben jede Sekunde. Doch zum absoluten Highlight führten schließlich die dänischen Indie-Experimentierköpfe Efterklang – und das obwohl mit The Subways und Dermot Kennedy zwei der größten Namen des Festivals zeitgleich spielen. Doch für das Trio gibt es die große Ehre in der beeindruckenden Elbphilharmonie zu spielen – was beim Publikum wohl schon alleine wegen der Location für die Entscheidung zugunsten der Dänen geführt hatte. Kurzfristig ist noch ein Kontingent für die eigentlich bereits vergriffenen Tickets frei geworden – keine Frage also, dass man sich das nicht entgehen lassen sollte. Und der Auftritt hält, was er verspricht: Jeder Klang geht unter die Haut, Frontmann Casper Clausen intoniert mit so viel Zärtlichkeit und dennoch Bestimmtheit, dass man kaum atmen möchte, um diese unfassbar klaren Klänge mit seinem nichtigen Dasein nicht zu unterbrechen. Neben der Uraufführung des neuen Albums “Altid Sammen” spielen die Dänen natürlich auch die Liebelingssongs aus den ersten Alben, die deutlich eingängier ausfallen und eine gänzlich andere Atmosphäre zaubern. Besonders schön: Clausen schreitet durch die Menge und fordert zum Mitsingen auf, was im besonderne Klangkosmos der Spielstätte auch wirklich außergewöhnlich klingt. Ein Auftritt, der für alle Anwesenden wohl noch lange im Gedächtnis bleiben wird!
Die Qual der Wahl
Angestrengt, aber doch zufrieden schaue ich anschließend auf das Reeperbahn Festival zurück und kann dabei einige Thesen festhalten: Dass man definitiv ein*e Musikfanatiker*in sein muss, um derart viele Laufwege für größtenteils unbekannte Bands auf sich zu nehmen. Dass Hamburg eine nahezu wahnwitzige Dichte an wunderbaren Spielstätten vorzuweisen hat. Dass sich andere Großveranstaltungen eine Scheibe von dieser hervorragenden Organisation abschneiden könnten. Dass Keychange auf der einen Seite doch so einfach umzusetzen sein kann – Gewinnerin des Anchor Awards ist am Ende übrigens die ukrainische Rapperin Alyona Alyona. Dass auf der anderen Seite Warner den problematischen Bausa leider hinter dem Rücken der Veranstalter*innen gebucht und damit den einzigen Skandal des Festivals ausgelöst hat. Und dass die Festival-App definitiv einer Überholung bedarf. Aber eins ist klar: Schöner und spannender könnte es für Musikliebhaber*innen wohl nirgendwo sonst sein. Und schon deswegen gilt das Reeperbahn Festival auch in seiner 13. Ausgabe berechtigterweise vielerorts als das beste Festival Deutschlands. Kann man gerne so unterschreiben.
Und so sah im vergangenen Jahr aus:
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