Interview mit Alice Merton über „S.I.D.E.S.“

Alice Merton SIDES

Mit dem ersten Song direkt den kompletten Durchbruch zu schaffen, packen nur wenige. Danach aber eine beeindruckende DIY-Karriere hinzulegen, noch viel weniger. Alice Merton ist eine davon und zeigt auf ihrem zweiten Album „S.I.D.E.S.“, wie düster und dennoch eingängig ihr Sound sein kann. Ein Gespräch über Abgründe, künstlerische Freiheit und das Leben zwischen den Stühlen von Indie und Pop.

minutenmusik: Dein Album ist jetzt ja schon eine Weile draußen. Wie hast du den Release denn erlebt? Konntest du ihn irgendwie feiern und was war anders als beim Debüt?

Alice Merton: Wir hatten tatsächlich Glück, dass wir genau an dem Wochenende gefragt wurden, ob wir beim Hurricane und Southside spielen wollen, weil Sam Fender ausgefallen ist. Wir haben den Release also zusammen mit der Band auf dem Festival gefeiert und das war total schön. Eine bessere Release-Party hätte ich mir gar nicht vorstellen können.

minutenmusik: Mich hatte es auch sehr gefreut, dich da zu sehen, weil ja bei den Festivals in Deutschland gerade etwas poppigere Acts nicht so stark repräsentiert werden. Überhaupt ein interessantes Thema: Deine Musik steht ja irgendwie zwischen den Stühlen, da steckt schon viel Indie drin, aber irgendwo auch immer Pop. Hast du denn bei dir selbst das Gefühl, dass du dich zu einem der Lager mehr zugehörig gefühlst? Gefällt es dir, dazwischen zu schweben oder stört es dich?

Alice Merton: Ich weiß nicht, ob ich es als cool empfinde. Ich höre einfach viel Indie-Musik, aber im Herzen liebe ich poppige Melodien. Diese Mischung ist vielleicht auch manchmal etwas komisch, weil man nicht weiß, wo man mich einordnen soll. Bin ich Pop? Bin ich Pop-Rock? Bin ich Alternative-Pop? Also ich glaube, Alternative-Pop ist da der beste Begriff, so als Alternative zum Pop. Die Melodien sind für mich schon poppig, aber ich liebe coole Indie-Produktionen.

minutenmusik: Das macht es ja auch spannender, wenn der Sound nicht so vorhersehbar ist. Würdest du sagen, dass das auch mit deinen Hörgewohnheiten zusammenhängt, was du selbst für Musik machst?

Alice Merton: Ich würde nicht sagen, dass es da einen Clash gibt. Ich höre privat super viel Musik und das inspiriert mich natürlich indirekt. Aber weil ich so verschiedene Sachen höre, kommt da so ein komischer Alternative-Pop raus.

minutenmusik: War das denn bei diesem Album anders? Hattest du da schon so eine klare Vorstellung, wie der Sound klingen soll?

Alice Merton: Ich glaube, das entwickelt sich mit der Zeit. Die Musik spiegelt da eher die Emotionen wider. Und deshalb muss man einfach etwas warten. Es ist natürlich auch abhängig davon, mit welchen Produzent*innen man arbeitet. Ich habe auf dem Album mit mehreren gearbeitet und das hängt auch etwas davon ab.

minutenmusik: Das fand ich auch sehr interessant, dass du obwohl du auf deinem eigenen Label veröffentlichst, dass du mit so vielen Leuten zusammengearbeitet hast. War es dann nicht schwieriger, deine eigenen Ideen einzubringen?

Alice Merton: Ich habe mit acht oder neuen Produzent*innen gearbeitet, immer nur einer pro Song. Ich wollte dieses Mal gerne mit super vielen Leuten arbeiten – und jeder von ihnen ist natürlich anders. Jeder hat seine eigene Herangehensweise. Ich bringe die Melodien und Lyrics mit und suche das, was zu dem jeweiligen Gefühl passt.

minutenmusik: Und wie läuft das bei deinem Label aus? Kannst du dir die Produzent*innen komplett frei aussuchen?

Alice Merton: Oft fragen wir sie, ob sie Lust haben, auf dem Album zu sein oder eine Session zu machen. Manchmal produziert es dann ein einziger Produzent am Ende, aber dieses Mal wollte ich der Executive Producer sein, der alles überschaut. Das war natürlich viel Arbeit, aber hat auch sehr viel Spaß gemacht.

minutenmusik: War das für dich auch schwierig, wenn du so viele verschiedene Einzeleindrücke hattest, da einen roten Faden zu finden?

Alice Merton: Der rote Faden für mich bestand aus den Geschichten, weil sie alle miteinander zusammenhängen. Musikalisch schaue ich, dass die Songs auch von der Art, wie die Stimme bearbeitet ist, zusammenpassen. Aber klar, „Vertigo“ ist ja zum Beispiel komplett anders als „Everything“ und das ist wieder anders als „Mania“. Ich mag das, das zeigt die diversen Seiten meines Songwritings, die ich gerne ausprobiere.

minutenmusik: Thematisch soll es bei dem Album ja darum gehen, dass viele Dinge eben zwei Seiten haben, also gute Dinge und schlechte Dinge. War das denn bei dir auch so, als der große Hype um dein Debüt kamen? Also dass da auch Dinge auf dich zukamen, die nicht so gut waren?

Alice Merton:Ich glaube, ich war generell überfordert mit der Situation, als „No Roots“ rauskam, weil ich das gar nicht so erwartet habe, was da alles passiert ist. Inzwischen bin ich total dankbar für das Lied und dass es so viele Leute erreicht hat. Aber ja, ich war sehr überwältigt.

minutenmusik: Kann ich mir vorstellen, dass das sehr viel ist so auf einmal.

Alice Merton: Ja, vor allem, wenn es der erste Song ist, den man veröffentlicht. Das hat mich total glücklich gemacht, aber natürlich sind da auch ganz viele andere Gefühle dazu gekommen.

minutenmusik: Das war ja dein Start in die Branche, aber dann warst du ja auch auf diversen Festivals und Sendungen und auch bei The Voice of Germany. Gab es denn irgendwelche Dinge, die dich beeinflusst haben im Sinne von, in diese Richtung möchtest du als nächstes gehen?

Alice Merton: Auf jeden Fall hat mich das live Spielen sehr geprägt. Dass man diverse Songs hat, die vom Rhythmus und vom Feeling her sehr anders sind und dass man an die Dramaturgie von einem Live-Auftritt denkt. Das hat eine große Rolle gespielt.

minutenmusik: Sind die Songs denn auch schon bei deinen Touren entstanden?

Alice Merton: Nein, die sind alle in den letzten zwei Jahren erst entstanden.

minutenmusik: Oh, also genau dann, als die Welt gerade nicht so toll aussah. Das erklärt vielleicht auch, warum die Songs teilweise auch düster sind als vorher, oder?

Alice Merton: Ja, ganz genau.

minutenmusik: Gerade bei Songs wie „Blindside“ wird es ja sogar richtig beklemmend. Findest du es denn auch gut, wenn eingängige Musik sich auch mal an schwierigere Themen wagt?

Alice Merton: Ich finde es sehr wichtig. Ich bin jemand, der sehr ehrlich in den Texten ist und es geht mir nicht darum, dass ich heitere Texte schreiben kann, sondern über Sachen, die mir passiert sind. Und auch Sachen, die mir dabei helfen, bestimmte Dinge zu verstehen. Ich denke immer, wenn es mir hilft, hilft es ja vielleicht auch irgendwem anders da draußen.

minutenmusik: Mit meiner Kollegin hattest du zum Release von „No Roots“ damals gesprochen und ihr erzählt, dass dein eigenes Label für dich vor allem wegen der künstlerischen Freiheit wichtig ist. Wie siehst du das denn mittlerweile?

Alice Merton: Ich glaube, dass es eine wichtige Entscheidung für uns war, das selbst zu machen. Und ich bin sehr dankbar dafür. Klar, es ist immer Freiheit zu einem bestimmten Grad. Ich fühle mich sehr frei in meiner Musikmacherei, aber trotzdem will ich auch, dass es Leuten gefällt. Mir muss es natürlich in erster Linie gefallen, aber ich freue mich umso mehr, wenn sich Leute damit identifizieren können. Man ist ja trotzdem abhängig von anderen Dingen von außen. Ich bin sehr dankbar für diese Freiheit, aber ich glaube anders könnte ich auch gar nicht Musik machen.

minutenmusik: Ich kann mir vorstellen, dass da ein großer Batzen Arbeit ansteht. Bist du froh, dass es durch ist oder hast du schon Motivation für die nächste Platte?

Alice Merton: Die Arbeit ist von der Schreib-Seite vorbei, aber die Arbeit fängt eigentlich gerade erst an für die Promo-Seite. Aber ich fange wieder an, neue Songs zu schreiben. Ich finde, der Prozess hört nie auf. Es gab nur ein halbes Jahr, wo ich gar nicht schreiben wollte. Ich fühle mich gerade sehr energetisch und freue mich darauf, mehr Musik rauszubringen.

minutenmusik: War es denn jetzt auch so, dass du beim Schreiben mehr an die Reaktionen und Erwartungshaltungen von außen gedacht?

Alice Merton: Ich habe an meinen eigenen Ideen festgehalten. Es geht immer um das, was ich selbst erlebe. Ich bin sehr froh, dass ich die Texte und Welten kreieren kann und lasse mich da gar nicht beeinflussen.

minutenmusik: Gab es denn bestimmte musikalische Einflüsse, die dich begleitet haben?

Alice Merton: Es waren eher Serien, die mich beeinflusst haben. Richtig dunkle Serien wie „Handmaid’s Tale“, „Breaking Bad“. Als ich mich eh schon schlecht gefühlt habe und mich durch sie noch schlechter gefühlt habe (lacht). Es sind aber tolle Serien. Ich brauche das irgendwie, wenn es mir schlecht geht. Dann brauche ich noch eine Schippe drauf.

minutenmusik: Erstmal suhlen in den eigenen schlechten Gefühlen, muss ja auch mal sein.

Alice Merton: Eine zeitlang konnte ich das machen, dann wurde es zu krass. Aber die Serien waren so gut, dass ich nicht aufhören konnte. Deshalb habe ich einfach gesagt, ich lasse es auf mich zukommen.

minutenmusik: Als ich das Video von „Vertigo“ gesehen habe, dachte ich auch erstmal, das wäre ein Auszug aus einem Film. Sind dir die Videos denn auch wichtig?

Alice Merton: Auf jeden Fall. Ich habe schon während des Songwritings Ideen, wie es aussehen könnte. Wenn ich das Glück habe, Regisseur*innen oder DOPs kennenzulernen, die das mit mir umsetzen können, dann ist es das Beste, was passieren kann. Das ist wirklich toll, wenn einem das gelingt, eine visuelle Welt zu kreieren. Ich liebe das.

minutenmusik: Da ist ja in dem Zusammenhang wiederum das Album-Cover spannend, weil das ja auch zum düsteren Thema passt. Wie steht das denn für dich im Zusammenhang mit der Platte?

Alice Merton: Das war das Gefühl, das mir die Platte gibt. Als ich es gehört habe, hatte ich das Gefühl, dass mein Gesicht einfach so zerschmilzt in das Nichts. Dass ich das Gefühl habe, ich könnte leben, aber ich habe keine Energie und kein schönes Gefühl in mir. Ich lag einen Monat lang nur im Bett. Genau wie dieses Bild habe ich mich gefühlt, als das Album entstanden ist.

minutenmusik: War das denn dann auch schwierig für dich, bei so persönlichen und düsteren Texten, diese Musik mit Leuten zu teilen? Oder war es eher befreiend?

Alice Merton: Beides. Es war befreiend, aber auch echt hart. Es hat sehr wehgetan.

minutenmusik: Wo du über die Serien gesprochen hattest – gerade „Handmaid’s Tale“ ist ja sehr gesellschaftskritisch. Ist denn auf dem Album trotz der vielen persönlichen Themen auch etwas Gesellschaftskritik versteckt?

Alice Merton: Ich würde nicht sagen, dass es auf der Platte gesellschaftsbezogene Fragen gibt. Es ist schon sehr auf meine Erfahrungen bezogen, beziehungsweise es gibt ein paar Songs, worauf man das durchaus beziehen könnte. Aber generell mit allem, was in der Welt passiert ist, ging es mir furchtbar. Ich glaube schon, dass ein paar Sachen in den Texten versteckt sind, die man beim ersten Hören nicht mal erkennen würde. „Mania“ zum Beispiel ist das Gefühl, dass man in eine Welt kommt, die man nicht versteht und manisch wird. Einfach gar nicht mehr klar kommt.

minutenmusik: Hast du denn das Gefühl, dass sich die Songs auch nochmal anders anfühlen werden, wenn du sie live spielst?

Alice Merton: Auf jeden Fall. Die Songs werden eine sehr dunkle Energie haben.

minutenmusik: Es gibt ja das Phänomen, an das viele Leute glauben, wovon ich noch nicht überzeugt bin, dass die beste Musik und Kunst entsteht, wenn es den Künstler*innen selbst nicht so gut geht. Hast du denn das Gefühl, dass du durch das Schlimme, was du fühlen musstest leider, auch musikalisch über dich hinaus gewachsen bist?

Alice Merton: Ich glaube nicht, dass man leiden muss, um gute Kunst zu machen. Ich kann es gar nicht beeinflussen, was in meinem Leben passiert und wie es mir damit geht. Ich weiß aber, dass ich mit diesem Album einen Bewältigungsmechanismus habe, um mich wieder darauf vorzubereiten. Dass ich weiß, so war es letztes Mal, es könnte sein, dass es wieder so sein wird. Aber vergiss nicht – The Other Side. Es gibt immer Hoffnung, auch wenn es sich anfühlt, als würde die Welt zuende gehen. Du wirst wahrscheinlich bald in deinem Leben so etwas spüren, wir können Tragödien ja nicht aus dem Weg gehen. Leid wird immer ein großer Teil des Lebens sein. Das einzige, was man machen kann, ist, sich an die schönen Zeiten zu erinnern. Und daran, dass es nicht das Ende ist.

minutenmusik: Also ist es auch in einer Form eine helfende Hand an die Hörer*innen, dass sie sich verstanden fühlen.

Alice Merton: Auf jeden Fall.

minutenmusik: Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg bei der anstehenden Tour.

Das Album „S.I.D.E.S.“ kannst du hier (Vinyl) oder hier (digital) kaufen.*

Und so hört sich das an:

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Alice Merton live 2022

  • 2.11. Alte Feuerwache Mannheim
  • 4.11. Posthalle Würzburg
  • 8.11. LKA-Langhorn Stuttgart
  • 9.11. Muffathalle München
  • 11.11. FZW Dortmund
  • 12.11. Zoom Frankfurt
  • 13.11. Live Music Hall Köln
  • 15.11. Forum Bielefeld
  • 16.11. Modernes Bremen
  • 17.11. Uebel & Gefaehrlich Hamburg
  • 01.12. Huxley’s Neue Welt Berlin

Rechte am Beitragsbild liegen bei Danny Jungslund.

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