Eurovision Song Contest 2019, Der deutsche Vorentscheid: Unser Lied für Israel, 22.02.2019

Unser Lied für Israel

Es ist Februar! Und was heißt das? Für die einen Karneval, für die anderen Oscarnacht oder Super Bowl – oder eben auch der Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 2019. Der größte Musikwettbewerb der Welt läuft im Mai unter dem Titel „Dare to Dream“!

Wer hätte das gedacht, dass die eher unauffällige, intime Pianoballade „You Let Me Walk Alone“ von Michael Schulte 2018 in Portugal so durch die Decke geht? Platz 4 für Deutschland! 4!!! Nochmal: vier! Die beste Platzierung seit Lenas Sieg 2010. Toll. Darauf kann der 28-Jährige aus dem hohen Norden echt stolz sein.

Dass die deutsche Songauswahl Unser Lied für Israel heißt, liegt an Netta. Das ist nämlich die Gewinnerin des letzten Jahres. Zum vierten Mal hat sie den Sieg für Israel geholt und mit ihrem extravaganten „Toy“ für eines der meistgeklicktesten Videos 2018 gesorgt – Hate it or love it! Das war schon häufiger das Motto beim ESC.

Aber wer soll nun in die Fußstapfen von Schulte treten? Die Messlatte liegt im Vergleich zu den Vorjahren definitiv hoch. Am 18.5. findet in Tel Aviv das große Finale statt – die zwei Semifinals überspringt Deutschland als „Big Five“ wie gewohnt. Außerdem stehen somit Italien, Frankreich, Großbritannien, Spanien und natürlich Israel bereits fest. Nachdem die deutsche Vorentscheidung fast jährlich im Konzept etwas verändert wurde, gilt dieses Jahr aber das Motto: „Never change a winning Vote“. Das sagt sogar Barbara Schöneberger in der Livesendung. Somit gehen auch dieses Jahr ein Drittel der Punkte von einem internationalen ESC-Komitee aus, das zweite Drittel von 100 ESC-Fans und das letzte Drittel von den Zuschauern aus Deutschland.

22.02.2019, ARD, 20:15. Ursprünglich ist für die Sendung 120 Minuten Laufzeit geplant. Die wird sogar noch um 40 Minuten verlängert. Solch eine Länge hatte der Vorentscheid Jahre nicht mehr. Wie gesagt: ESC ist ja seit dem Erfolg im letzten Jahr wieder etwas trendiger geworden! Somit darf sich dieses Mal auch in vielen Dingen mehr Mühe gegeben werden: bessere Bühne, bessere Moderation, ausführliches Casting bei den Teilnehmern. Zum Glück wurde sich von Elton verabschiedet und Barbara Schöneberger zurückgeholt. Ja, die Gute nervt auch heute noch mit ihrem 2716sten „Ich bin ja so dick“-Gag, aber kennt immerhin den ESC wie ihre Westentasche. Linda Zervakis harmoniert dazu auch ganz ordentlich, sodass peinliche Moderationsausfälle fast gänzlich fernbleiben.

Peter Urban darf als DER ESC-Sprecher natürlich nicht fehlen, bekommt genug Sendezeit und macht wie gewohnt alles richtig. Auf den ist halt immer Verlass. Tatsächlich gibt es sogar einen Gastkommentator neben ihm – Michael Schulte. Das hat man nicht unbedingt gebraucht, geht aber auch irgendwie durch. Nach einem charmant-witzigen Opening, das durch Barbara Schöneberger mit einem neuen deutschen Text Schultes Erfolgsstory erzählt und letztendlich in seinem Hit mündet, kann man dem Herrn seine Präsenz in der Sendung schon gönnen. Als Pausenact darf er später einen weiteren Song präsentieren („Back To The Start“), der auch ganz ordentlich klingt.

Davor gibt es aber sieben Künstler, die nach Israel wollen. Nach der Überzahl an Männern im letzten Jahr setzt man 2019 lieber auf Altbewährtes: auf Frauen! Die sind statistisch nämlich erfolgreicher beim ESC. Gleich sechs der insgesamt acht Sänger sind weiblich. Einmal sogar im Doppelpack. Die beiden Jungs sind neben der Minderheit noch außerordentlich jung.

Als erstes singt einer von ihnen, nämlich Gregor Hägele. Sein „Let Me Go“ ist eine nette Up-Tempo-Singer-Songwriter-Ballade, die guten Radiopop darstellt, aber nach einmaligem Hören nicht direkt zündet. Gesanglich an einigen Stellen durchaus beeindruckend, aber einfach zu unspektakulär. Hat nach ein Paar Durchläufen bestimmt Potenzial ein netter Frühlingshit zu werden, aber das ist eben Gift für den ESC. Hier muss alles stimmen innerhalb weniger Sekunden.

Nicht alles, aber sehr viel stimmt bei Auftritt 2. Aly Ryan, eine bereits in den USA erfahrene Sängerin, bietet womöglich das Eurovision-tauglichste Lied des Abends. Gesanglich keine Höchstleistung, zum Ende hin sogar etwas tonal daneben, dafür eine sehr gelungene Performance und ein Song, der einerseits ein stückweit ins Ohr geht, andererseits ständig überrascht und sexy klingt. „Wear Your Love“ ist mit seinen modernen elektronischen Spielereien das Highlight des Abends – unserer Meinung nach zumindest.

Makedas „The Day I Love You Most“ ist die typische Breitbandballade. Dramatischer Aufbau, endet im Belting. Zwar klingt Makedas Stimme etwas angegriffen und nicht ganz gesund – dass sie aber Musicalerfahrung hat, hört man direkt und ist bei einem Song mit solch einem Anspruch auch notwendig. Hätte besser sein können, war aber kitschig-gut.

Und dann kommt auch das Lowlight. 2017 reichte es für die in NYC geborene BB Thomaz noch für Platz 4 bei „The Voice of Germany“, dafür misslingt ihr Song „Demons“ auf vollster Linie. Eine möchte-gern coole Up-Tempo-Nummer, die zu viel Geschreie beinhaltet, das böse Wort „Fuck“ im Refrain besitzt, aber durch die Sängerin lockerlässig zensiert wird. Gähn. Dämonen in mir, bla. Ja. Ok. Got it. Dazu eine seltsame Choreo auf einer Treppe, bei der sie von zwei ihrer Feinde im Kopf angegriffen wird. Next.

„Surprise“ ist das Motto bei Titel 5. Bei Lilly Among Clouds kommt gehäuft der Vergleich zu Florence + The Machine auf. Ihr mystischer Song „Surprise“ ist womöglich die Nummer, an der sich an diesem Abend die Geister scheiden. Die einen finden es großartig, die anderen großartig schlecht. Tonal stimmt hier wenig, dafür wird sich im Ausdruckstanz geübt und immerhin irgendwas an Persönlichkeit transportiert. Wähle selbst!

Der zweite und letzte männliche Kandidat namens Linus Bruhn macht mit „Our City“ 0815-Pop a la Nico Santos oder Shawn Mendes. Stört nicht beim Bügeln. Wer’s braucht! Süß, niedlich. Aber der Bonus ist halt auch irgendwann mal aufgebraucht. Substanz hat auch das wenig bis gar nicht, geht links rein und rechts raus.

Last but not least der einzige Auftritt mit mehr als einer Person: S!sters mit „Sister“. Klingt nach einem Scherz, ist aber keiner. Und die zwei sind – Obacht – KEINE Geschwister. Irgendwie enttäuschend. Der Midtempo-Track bietet zwei angenehme Stimmen mit einer recht ansprechenden Performance. Recht eingängig, gespickt mit Spieluhrgeräuschen, aber ansonsten ohne große Überraschungen. Trotzdem nett.

In dem recht langen Abstimmungsverfahren ist genug Zeit für fünf (!) Filler. Neben dem bereits erwähnten Schulte darf die ESC-Omi Lena mal wieder ran und präsentiert mit „Thank You“ ihren aktuellen Hit. Dazu Revolverheld, die jedes Jahr beim Countdown vor der finalen Show auf der Reeperbahn ein paar Songs spielen dürfen und auch heute mit „So wie jetzt“ sich kurz selbst promoten. Johannes Strate darf sogar später Punkte vorlesen. Wirklich überraschend ist der letzte Act, der nicht von den beiden Moderatorinnen, sondern von Peter Urban anmoderiert wird: Udo Lindenberg! Jawohl! Einmal sogar im Duett mit Andreas Bourani („Radio Song“), dann nochmal solo mit einem etwas seltsamen Track namens „König von Scheißegalien“. Anscheinend braucht auch der Udo für seinen 2. MTV-Unplugged-Output etwas Werbung. Etwas deplatzierter Gig, aber nun ja.

Dann wird’s spannend. Gerade für die erste Wertung von der internationalen Fachjury wird sich Zeit gelassen. So dürfen aus 20 Ländern je ein Vertreter Punkte vorlesen. Der Favorit bekommt zwölf Punkte, Platz 2 zehn, Platz 3 acht, Platz 4 sieben, Platz 5 sechs, Platz 6 fünf und der letzte immerhin noch vier Punkte. Hier darf eben auch Johannes Strate für Deutschland ran. Tatsächlich ist sich das Fachpersonal nicht einig. Insgesamt bekommen vier der sieben Titel die volle Punktzahl. Am Ende liegen S!sters mit einem Punkt vor Makeda an der Spitze. Die daraus resultierende Reihenfolge wird nun erneut in das Punktesystem umgewandelt. Erster Zwischenstand:
1. S!sters (12)
2. Makeda (10)
3. Linus Bruhn (8)
4. Lilly Among Clouds (7)
5. Aly Ryan (6)
6. BB Thomaz (5)
7. Gregor Hägele (4)

Die ESC-Fans sehen das größtenteils anders. Zwar schneiden auch hier BB Thomaz und Gregor Hägele am schlechtesten ab, allerdings in umgekehrter Reihenfolge. Platz 1 hier: Aly Ryan! Guck an. Anscheinend scheint der minutenmusik-Geschmack dem Panel recht nahe zu kommen. Platz 2 geht an Makeda, Bronze an Lilly Among Clouds, der Vierte an Linus Bruhn und nur Platz 5 an S!sters. Auch hier werden Punkte zwischen Zwölf und Vier vergeben. Zwischenstand Nr. 2:
1. Makeda (10 + 10 = 20)
2. S!sters (12 + 6 = 18)
2. Aly Ryan (6 + 12 = 18)
4. Linus Bruhn (8 + 7 = 15)
4. Lilly Among Clouds (7 + 8 = 15)
6. Gregor Hägele (4 + 5 = 9)
6. BB Thomaz (5 + 4 = 9)

Und dann folgt die finale Entscheidung. Die Zuschauer, die per Anruf und SMS voten konnten, machen das letzte entscheidende Drittel aus. BB Thomaz scheidet direkt aus, ihr werden nur vier Punkte gegönnt. Auch hier bekommt Gregor Hägele lediglich fünf. Bei den letzten beiden Plätzen waren sich wirklich alle einig. Makeda erreicht bei den Leuten vorm Fernseher und auf den Sitzen im Publikum mickrige sechs Punkte, was ihr den Sieg kostet. Dann verabschiedet sich auch Aly Ryan mit sieben Pünktchen. Den dritten Platz bei den Zuschauern erreicht Linus Bruhn, den zweiten Lilly – und somit gehen zum zweiten Mal zwölf Punkte an S!sters, die völlig verheult ein weiteres Mal auftreten dürfen. Der Endstand:
1. S!sters (12 + 6 + 12 = 30)
2. Makeda (10 + 10 + 6 = 26)
3. Lilly Among Clouds (7 + 8 + 10 = 25) [Zuschauervoting wird stärker gewichtet, demnach vor Aly Ryan] 4. Aly Ryan (6 + 12 + 7 = 25)
5. Linus Bruhn (8 + 7 + 8 = 23)
6. Gregor Hägele (4 + 5 + 5 = 14)
7. BB Thomaz (5 + 4 + 4 = 13)

Das Ergebnis zeigt abermals, dass die Hardcore-Eurovision-Fans einen komplett anderen Geschmack haben als die Fachjury oder Zuschauer, wovon manche vielleicht zufällig eingeschaltet haben. Wer den ESC schon länger verfolgt, kann genau bemerken, dass gerade die Jurys und die Anrufe in den einzelnen Ländern im Finale häufig extrem weit auseinander gehen. An diesem Abend waren sich immerhin Fachjury und Zuschauer einig – nur die Fans, die sich für das Panel beworben haben, fallen aus dem Rahmen. Letztes Jahr hat Michael Schulte apropos in allen drei Gruppen die volle Punktzahl eingeheimst. Was der letzte und diesjährige Gewinner der Show gleich haben: beide traten als letzte auf! Auch hier bestätigt sich die Theorie, dass spätere Teilnehmer in Shows mit Abstimmungsverfahren bessere Karten haben, weil die Zuschauer bereits warmgelaufen, leichter zu überzeugen sind als am Anfang und den letzten Auftritt präsenter haben.

Fazit: Nach Ewigkeiten eine würdige Show für den deutschen Vorentscheid! Dem ESC wird dank Schulte in Deutschland etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Die Songauswahl war in Ordnung, wenn auch nicht überragend. Erste Tendenzen fürs Finale im Mai sind nicht einfach zu treffen, da noch nicht jedes Land seinen Song bzw. Interpret ausgewählt hat – minutenmusik tippt aber für S!sters auf eine Platzierung am Ende des ersten Drittels. Mitte April stellen wir euch die restlichen 41 Mitbewerber vor. Stay tuned!

Und so hört sich unser Gewinnersong an:

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