Dass irgendwann mal etwas um die Ecke kommen würde, was es schafft, den Eurovision Song Contest zu canceln, hätte wohl niemand gedacht – zumindest nicht bis zum März 2020. Der seit 1956 jährlich ausgetragene Wettbewerb, der sich im Laufe der Zeit zum größten Musikcontest der Welt entwickelte, musste erstmalig pausieren. Die Gründe liegen auf der Hand. Obwohl es immer mal wieder Komplikationen bei der Organisation gab – zum Beispiel durch Länder, die zwar im Vorjahr gewonnen hatten, aber aus finanziellen oder politischen Gründen den Wettbewerb nicht selbst austragen konnten –, war alles lösbar. Aber was soll’s. Die Pläne für den kommenden Mai sind gemacht und der ESC soll in den Niederlanden, genauer in Rotterdam, über die Bühne gehen. Dort, wo er auch diesen Mai gewesen wäre. Wie letztendlich die Show ausschauen wird, ob Zuschauer*innen oder gar Teilnehmer*innen in der Halle live dabei sein werden, weiß gegenwärtig niemand.
Trotzdem ist 2020 kein komplett freies ESC-Jahr. Die nationalen Vorentscheidungen haben alle stattgefunden. Zwar manche ohne Publikum, aber immerhin. Ein paar Specials im Mai sorgten für bittersüße Momente. Und einen richtigen Wettbewerb gibt es auf der letzten Strecke sogar auch noch. Die Veranstalter*innen des Junior Eurovision Song Contests hatten nach dem Auftauchen der Pandemie genug Zeit, um an ihrem Konzept zu feilen und dieses umzusetzen. Junior was? Ist das neu? Tatsächlich so gar nicht, fühlt sich aber für viele wahrscheinlich neu an. Seit 2003 gibt es den Wettbewerb, der sich an musikalische Jugendliche unter 16 Jahren – aktuell sogar unter 15 – richtet, ebenfalls einmal pro Kalenderjahr und stets im November bzw. Dezember. Zu sehen war er bei uns in Deutschland bisher nur online. 2020 ist aber auch das anders und er kann im TV auf dem KiKA – ein Fernsehsender, der der ARD angehört, die bekanntlich das Original ausstrahlt – angeschaut werden. Der Grund: Deutschland debütiert als Teilnehmerland.
Jawohl, man glaubt es kaum. Ganze 18 Ausgaben hat es gedauert, bis das Land, das zu den fünf wichtigsten finanzierenden Ländern beim ESC gehört und welches seit der ersten ESC-Ausgabe mit dabei ist, beim Junior Eurovision mitwirkt. Generell scheint aber das Interesse an der Mini-Edition eher gering zu sein. Sehr viele Länder haben trotz ihres Gewinns den Wettbewerb im Folgejahr nicht bei sich ausgeführt, unzählige trotz der Möglichkeit noch nicht mitgemacht. Umso skurriler, dass Kasachstan und Wales bereits zweimal teilgenommen haben, obwohl sie noch nie beim großen ESC dabei waren. Ebenso auffällig: Georgien liegt mit drei Gewinnen an der Spitze, gefolgt von zwei Gewinnen für Polen, Weißrussland, Russland und Malta. Lediglich Russland durfte von diesen Ländern auch schon mal beim Original gewinnen.
Aber das macht das Ganze natürlich auch wieder aufregend. Die Karten werden neu gemischt und alles auf null gesetzt. Für Kinder gelten zurecht eh tolerantere Regeln. Am 29.11.2020 läuft also der 18. Junior Eurovision unter dem Motto Move The World! über die Bildschirme, äußerst familienfreundlich am ersten Advent um 17 Uhr. Warschau darf die Show organisieren, gewann Polen nämlich sogar die letzten zwei Jahre in Folge. Die Teilnehmer*innen dieses Jahr belaufen sich auf lediglich 12 Länder – Deutschland, Malta, Russland, Ukraine, Niederlande, Serbien, Georgien, Frankreich, Spanien, Kasachstan, Weißrussland und Polen – und sogar auf nur 15 Personen, da die Niederlande das einzige Land sind, die eine vierköpfige Band schicken. Alle anderen Kinder und Teenager*innen stehen neben Tänzer*innen auf der Bühne, singen aber allein. Bei Jungs scheint der Wettbewerb ebenfalls wenig beliebt: nur die Ukraine und Serbien schicken männliche Vertreter. Ausgewählt wurden die jungen Talente in dafür vorgesehene Vorentscheidshows oder intern vom nationalen TV-Sender, so wie auch beim regulären ESC üblich.
Vieles erkennt man beim Zuschauen wieder, so einiges ist aber doch anders. Was zum Beispiel vom Original übernommen wird, sind die sogenannten „Postcards“. Kleine Videos vor dem Auftritt, die die Künstler*innen vorstellen sollen. Auch die Einblendung der Komponist*innen und Texter*innen bleibt und betont, dass es auch hier zumindest irgendwo um die Songs gehen soll und nicht nur um die Performances. Das Punktesystem ist ebenso ähnlich. Jedes teilnehmende Land hat eine fünfköpfige Fachjury – hier bestehend aus zwei Kindern und drei Musikexpert*innen –, die Punkte an die elf übrigen Teilnehmer*innen zwischen 1 und 8, 10 oder 12 vergeben darf. 2020 bekommt also nur ein Land von den jeweiligen Jurys keine Punkte. Diese Jurys sorgen bereits für 50% der Endpunktzahl. Die anderen 50% kommen durch Onlinevotings zustande – und zwar weltweit. Jede*r Zuschauende kann kostenlos für drei Favorit*innen abstimmen, theoretisch sogar fürs eigene Land, was beim Telefon-/SMS-Voting bekanntlich nicht funktioniert. In den ersten fünf Jahren des Wettbewerbs durften nur Jugendliche das Lied geschrieben haben, seit 2008 sind aber auch Erwachsene als Unterstützung erlaubt. Die größten Unterschiede sind aber neben dem äußerst kleinen Studio, in dem sich nur wenige Zuschauer*innen mit Masken auf den Tribünen befinden, einerseits die Länge der Show: exakt zwei Stunden genügen. Es wird, obwohl es sich um eine Liveshow handelt, keine Minute überzogen. Was ein Timing. Noch spannender aber: Der Song muss zu mindestens 60% auf Landessprache gesungen werden, was sich viele auch beim großen Bruder zurückwünschen.
Die Livesendung wird zwar auf Englisch von drei in Polen bekannten Persönlichkeiten moderiert, gleichzeitig aber bei der Übertragung auf KiKA auf Deutsch kommentiert. Leider nicht von Peter Urban, dafür aber von Bürger Lars Dietrich, der den Job charmant und sympathisch, allerdings weniger witzig macht. Eröffnet wird die Show von der letzten Gewinnerin Viki Gabor und ihren Gewinnertitel „Superhero“, der direkt verdeutlicht: hier wird geklotzt statt gekleckert. Manche Performances und Songproduktionen lassen sich kaum vom Original unterscheiden, was sowohl begeisternd als auch abschreckend ist. Kinder und Jugendliche eifern hier ihren großen Vorbildern nach, machen das teilweise auch extrem gut, aber auch manchmal wenig dem Alter gerecht. Zwischendrin schleichen sich waschechte Fremdschammomente ein, wenn unter anderem die 10-jährige Teilnehmerin aus Georgien wie selbstverständlich von „einem großen Schritt in meiner Karriere“ spricht. Gleiches gilt für das Opening, das ein wenig zu ambitioniert und lasziv anmutet. Aber wir wollen hier nicht zu pädagogisch werden. Während der Abstimmung dienen als Pausenakt die ursprünglich angedachte ESC-2020-Teilnehmerin für Polen, Alicja, mit ihrem Bond-artigen, coolen Song „Empires“ und der amtierende, niederländische Gewinner Duncan Laurence mit seinem Gewinnerhit „Arcade“ im Trio mit den beiden polnischen Junior-ESC-Gewinnerin – als Hologramm wohlbemerkt! Diese Technik wird auch beim Mottosong „Move The World“ mit allen gegenwärtigen Teilnehmer*innen angewendet. Befremdlich und beeindruckend zugleich.
Natürlich funktioniert die Show nicht so, als ob Corona nicht existiert. Deswegen sind die Teilnehmer*innen nicht in Warschau, sondern alle in Studioräumen ihrer jeweiligen nationalen TV-Sender. Besonders traurig wird der Anblick, wenn zu den Teilnehmer*innen geschaltet wird und sie ganz allein ohne Begleitung in einem Raum sitzen, weil es die aktuellen Coronaauflagen so fordern. Bitter. Dass die Teilnehmer*innen aber nicht mal in dem Moment live performen müssen, ist merkwürdig und kritisch zu betrachten. Stattdessen werden aus jedem Land vorher aufgezeichnete Studioauftritte gezeigt – heißt also konkret, aus wie vielen Zusammenschnitten und Versuchen das Video besteht, ist nicht zu erkennen. Ob der Gesang komplett live ist oder nachträglich bearbeitet wurde, ist genauso ein Rätsel. Da aber für alle zwölf Länder diese Möglichkeiten bestehen, haken wir diesen Nicht-Live-Aspekt als Corona-Ausnahme ab.
Wie bereits erwähnt, wird sich besonders in den Kompositionen echt Mühe gegeben. Trashig-peinlich oder gar kindlich ist keine einzige Nummer. Ein paar Titel haben sogar richtig Edge und gehen beim ersten Mal nicht so schnell ins Ohr. Außergewöhnlich, wenn Kinder solche anspruchsvollen Tracks präsentieren. Gesangliche Höhepunkte gibt es viele, in Kombination mit kantigen Liedern hat manches sogar wirklich Qualität. Ganz vorne mit dabei ist das sich ständig wendende Bombastgewitter „Aliens“ von Arina Pehtereva aus Weißrussland und die auch optisch leicht Björkig-wirkende Georgierin Sandra Gadelia und ihr hervorragend gesungenes „You Are Not Alone“ – beide Anwärterinnen sollten es in einigen Jahren beim richtigen ESC probieren. Das hat großes Potenzial. Letztendlich ist das aber den Teenager*innen dieser Zeit wohl doch zu schwer zu greifen, sodass beide Teilnehmerinnen genau im Mittelfeld auf den Plätzen 5 und 6 landen.
Mainstreamiger und chartfähiger Pop ist dann auch das, was auf den besten Rängen landet. Spanien liefert klassischen, spaßigen Reggaeton namens „Palante“, der auch als einer von zwei Beiträgen komplett auf Landessprache gesungen wird und nicht die erlaubten 40% nutzt, um einen englischen Chorus einzustreuen. Teenie-Mucke, wie man sie sich klischeehaft vorstellt, kommt nur aus den Niederlanden mit den vier Mädels von UNITY, deren Lied naiv-niedlich „Best Friends“ heißt, aber auch ansteckend gute Laune bietet und klingt wie aus einer jungen Pitch Perfect– oder Glee-Variante. Das reicht jedoch beides nur für Platz 3 und 4. Letztendlich sackt Frankreich bei den Jurys und Zuschauer*innen die meisten Votes ein und gewinnt mit glatten 200 Punkten, was gleich 48 Punkte Vorsprung und den ersten Sieg für die Franzosen bedeutet. „J’imagine“ von Valentina erreicht auch komplett auf Französisch die Herzen und zaubert ein Lächeln. Das ist zwar so ziemlich die kindlichste Performance des Abends, gleichzeitig aber auch die letzte Startnummer. Bis dahin hat man sich also gut warmgehört, den ungefähren Maßstab erkannt und sich final von dem „Lalala“-Sing-Along-Ohrwurm-Refrain mitreißen lassen – was auch irgendwie schön ist, oder?
Dabei hatte Polen gar nicht so schlechte Chancen, ein Triple zu schaffen. Mit „I’ll Be Standing“ präsentiert Ala Tracz die beste Pop-Nummer der Show, die mit einer anderen Sängerin und komplett auf Englisch das Zeug zum Hit hätte. Kompositorisch ein schöner Song, der auch beim großen ESC zu den Top 10-Highlights gehören würde. So viele Lobeshymnen, wo bleiben die Fehltritte? Gab’s wenig. Einiges flutschte unbemerkt durch, unter anderem auch die beiden einzigen männlichen Beiträge. Optisch fährt Kasachstan voll auf und sorgt für einen der ESC-typischen Augenblicke, in denen man weggucken möchte, aber wie gefesselt auf den Bildschirm starrt. Karakat Bashanova singt in „Forever“ für ihren verstorbenen Vater, was für sich allein schon tragisch genug ist. Dass sie aber auf einer Empore hochgehoben ein Meter langes weißes Kleid trägt, aus dem zwischenzeitlich Engelsflügel wachsen, dazu ein Meteorregen auf sie niederprasselt, sie weint und am Ende noch ihr Herz mit kitschigen Effekten angestrahlt und aufgeregt-schlagend gezeigt wird, ist locker zehn Spuren too much. Funktioniert natürlich trotzdem und bekommt am Ende die Silbermedaille.
Sprachen wir nicht darüber, dass Deutschland debütiert hat? Doch, taten wir. Und so, wie es sich für einen deutschen Beitrag beim Eurovision gehört, geht der direkt baden. Susan Oseloff und ihr „Stronger With You“ ist zwar nicht das Schlechteste der gesamten Show, aber deutlich eins der drei oder vier schlechtesten Songs. Positiv: „Stronger With You“ ist der alleinige Titel, der komplett von einem 17-jährigen Jugendlichen geschrieben wurde. Gleichzeitig wirkt ihre Performance dennoch als einzige etwas probenartig und wenig ausgefeilt und der Gesang an einigen Stellen schief. Da hätte ordentlich ausgebessert werden müssen. Wurde aber nicht, was bedeutet, dass Deutschland sowohl beim Jury- als auch beim Onlinevoting die wenigsten Stimmen kassiert und am Ende mit 66 Punkten auf Platz 12 landet – 19 Punkte hinter Platz 11. Das Mädel kann einem leidtun, wirklich überraschend kommt das Ergebnis jedoch nicht. Ob wir nächstes Jahr nochmal mitmachen? Abwarten.
Schön, dass der Junior Eurovision Song Contest auch in Deutschland angekommen ist und Stück für Stück an Popularität gewinnt. Kinder und Jugendliche sind die Talente von Morgen und sollen ihr Können unter Beweis stellen. Etwas kindgerecht-lockerer und mit weniger Fake-Smiles und Kusshand zuwerfen, darf es aber trotzdem zugehen. Und etwas mehr Mühe für den deutschen Beitrag können sich die Zuständigen auch geben.
Hier nochmal alle Ergebnisse im Überblick:
1. Frankreich: „J’imagine“, Valentina (88 Jury-Punkte, 112 Onlinevoting-Punkte, 200 gesamt)
2. Kasachstan: „Forever“, Karakat Bashanova (83 Jury, 69 Online, 152 gesamt)
3. Spanien: „Palante“, Soleá (60 Jury, 73 online, 133 gesamt)
4. Niederlande: „Best Friends“, UNITY (68 Jury, 64 online, 132 gesamt)
5. Weißrussland: „Aliens“, Arina Pehtereva (73 Jury, 57 online, 130 gesamt)
6. Georgien: „You Are Not Alone“, Sandra Gadelia (69 Jury, 42 online, 111 gesamt)
7. Ukraine: „Vidkryvai (Open Up)“, Oleksandr Balabanov (52 Jury, 54 online, 106 gesamt)
8. Malta: „Chasing Sunsets“, Chanel Monseigneur (51 Jury, 49 online, 100 gesamt)
9. Polen: „I’ll Be Standing“, Ala Tracz (46 Jury, 44 online, 90 gesamt)
10. Russland: „My New Day“, Sofia Feskova (44 Jury, 44 online, 88 gesamt)
11. Serbien: „Heartbeat“, Petar Aničić (35 Jury, 50 online, 85 gesamt)
12. Deutschland: „Stronger With You“, Susan Oseloff (27 Jury, 39 online, 66 gesamt)
Mehr ESC gibt es hier.
Und so hört sich der Gewinnersong aus Frankreich an:
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