Als sich der pinkfarbene Vorhang öffnet, gibt dieser ein kleines Schlaraffenland frei. Grüne Hügel, Blumen in allen erdenklichen Farben, ein alter Baum, der sich durch all das windet. In diese Welt tritt ein schnauzbärtiger Mann, auf dem Kopf eine Cap, eine beige Weste eng am Oberkörper angelegt. Casper heißt der Protagonist, wegen dem sich heute knapp 4000 Menschen im Kölner Palladium eingefunden haben. Er wird in den folgenden 95 Minuten die harte Realität in das blumige Wunderland einkehren lassen.
Benjamin Griffey, wie Casper heißt wenn er nicht gerade auf Bühnen herumturnt, veröffentlichte im zurückliegenden Februar sein viertes (zählt man das nicht auf Streaming-Plattformen auffindbare „Hin Zur Sonne“ mit: fünftes) Studioalbum. Er taufte es „Alles War Schön Und Nichts Tat Weh“, es sollte sein Blumenalbum sein, eine reflexartige Gegenreaktion zum dystopischen Industrial-Ausflug „Lang Lebe Der Tod“. Dem Überthema entsprechend tummeln sich Kunstblumen an Bühnenrand und künstlichem Hügel, auf dem die sechsköpfige Band platziert ist. Die Schatten, die das Leben zeichnet aber, blieben der Musik Caspers erhalten. Auch wenn man musikalisch hier und da etwas Licht ließ. „Das bisschen Regen“ etwa katapultiert Zuhörende mitten in das Unheil, das der Hurrikan Katrina Anfang des Jahrhunderts über Caspers Heimat New Orleans brachte. Wenn er den Song live spielt, tritt Griffey immer wieder vom Mikrofon fort, klopft sich auf die Brust als tobe dort ein Wespennest, das nur darauf wartet befreit zu werden. Im Hintergrund verleihen über den großen LED-Screen schneidende Blitze der Szenerie etwas bedrohliches.
Später spielen Casper und Band das Stück „Michael X“. Nicht oft schafft es der Song in das Set, immerhin rotieren Griffey und Kolleg*innen an vier bis fünf Stellen pro Abend durch (ebenfalls toll: „Lilablau“ mit Gastsänger Drangsal). Auch hier ist die vorgetäuschte Idylle wenig spürbar. Das Lied nämlich handelt von einem Freund Caspers, der sich vor Jahren das Leben nahm. Von psychischen Struggles handelt auch „Tnt“, den Casper gemeinsam mit Supportact Tua performt. Zum Schluss erscheint ein Einspieler auf dem Bildschirm, der auf die weite Verbreitung depressiver Krankheiten aufmerksam macht und eine Auflistung an Hilfsangeboten an die Botschaft knüpft, man sei nicht alleine mit seinen inneren Kämpfen. Immer wieder drapiert Casper seine Songs mit solchen kleinen Statements. An einer Stelle steht auf dem Screen in arabisch und englisch „Women. Life. Freedom.“, der Slogan der iranischen Protestbewegung. Und während Casper in „Billie Joe“ vom tragischen Schicksal seiner gleichnamigen Cousine berichtet, die von ihrem aus Kriegsfolgen unter posttraumatischer Belastungsstörung leidenden Ehemann ermordet wurde, thront hinter ihm ein in Richtung Russland schielendes „War can never be the answer“.
Schwer wiegt aber nicht alles an diesem Abend. Casper, dessen „zartes Stimmchen“ etwas angeschlagen ist, liest Fan-Schilder, unterschreibt Bildchen, dirigiert den „schönsten Chor der Welt“, lässt Rosenkonfetti regnen und immer wieder „Kreise inmitten der Menge“ entstehen (zu „Adrenalin“ oder „Gib Mir Gefahr“, das sich kurzerhand an Refused’ „New Noise“ bedient, etwa). Für ein paar Stunden treten so die reellen Sorgen und Ängste des Alltags in den Hintergrund zugunsten einer zumindest in Teilen besseren Welt. Einer Welt, die zwar äußerlich einem Schlaraffenland gleicht, die harten Seiten des Lebens aber nicht verschweigt, sondern verarbeitend und offen thematisiert. Und dabei wie selbstverständlich stets Haltung bewahrt. Den pinken Vorhang möchte man da gar nicht mehr zugehen sehen.
Mehr Casper gibt es hier.
Und so hört sich das an:
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Casper live 2022:
14.12.2022 Hannover, Swiss Life Hall
16.12.2022 Berlin, Max-Schmeling-Halle
17.12.2022 Bielefeld, Zurück Zuhause Festival (ausverkauft!)
18.12.2022 Bielefeld, Zurück Zuhause Festival
Foto von Jonas Horn.
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