Die Kassierer, Schlachthof Wiesbaden, 21.01.2017

Die-Kassierer_Live_Schlachthof-Wiesbaden

19 Uhr. Ein paar Freunde und ich treffen uns in einer abgeranzten Bahnhofskneipe gegenüber eines bekannten Mainzer Laufhauses. Wir bestellen uns jeweils ein großes Pils, während sich am Tisch neben uns zwei besoffene Alkoholiker prügeln. Es fliegt ein Stuhl gegen die Wand. Stilecht, denn so muss wohl ein Samstagabend aussehen, bevor man ein Konzert der legendären Kultband „Die Kassierer“ besucht. Die Punkrocker aus Bochum-Wattenscheid rund um Frontmann Wölfi (eigentlich Wolfgang Wendland) tritt heute im Wiesbadener Kulturzentrum Schlachthof auf. Es ist mein erstes Konzert der Kassierer und Aufregung macht sich in mir bemerkbar, denn – wie mir häufig zugetragen wurde – muss man die Band wohl unbedingt einmal live erlebt haben. Wir zahlen und besorgen uns am Kiosk um die Ecke ein Dosenbier, ehe uns die S-Bahn zur Wiesbadener Location befördert.

Recht schnell wird mir beim Betreten des Saals bewusst, dass man am heutigen Konzertabend wohl – erstmals bei einem Besuch des Wiesbadener Schlachthofs überhaupt – nicht allzu lange Schlangen vor der Frauentoilette zu befürchten hat, denn die männlichen Konzertbesucher dominieren deutlich. Bemerkenswert ist hier aber vor allem die breitgefächerte Zuschauerschaft, denn wer heute Abend nur junge Punks oder Rocker im Publikum vermutet hat, irrt. Männer und (deutlich wenige) Frauen aller Alters- und Berufsgruppen haben sich heute versammelt, um der Band aus Bochum-Wattenscheid zu huldigen.

Pünktlich um 21 Uhr geht es los: Im Saal erklingen die ersten schnellen, verzerrten Gitarrenriffs, denn „Volker Putt“ (Achtung, Wortspiel!), eine Punkband aus Helmstedt/Niedersachsen, betreten die Bühne und animieren mit ihrer sozialkritischen, aber dennoch humorvollen „Hau drauf!“-Musik vor allem die vorderen Reihen zum Warmpogen. Die meisten Konzertbesucher nutzen die Gunst der Stunde jedoch, um sich noch rasch ein Bier an der Theke zu besorgen. Denn wie besagt das wohl prägnanteste Lebensmotto der Kassierer? Richtig. „Das Schlimmste ist, wenn das Bier alle ist!“

22:05 Uhr. Mit je einem Bier in der Hand bewaffnet, betreten die vier Wattenscheider unter tosendem Applaus die Bühne und stimmen sogleich ihre – mit dem Schlachtruf „Saufen, saufen, jeden Tag nur saufen!“ beginnende – Hymne „Besoffen sein“ an. Es dauert keine fünf Minuten, bis Frontmann Wölfi den „Ausziehen, ausziehen!“-Forderungen des Publikums Folge leistet, sich seinen Klamotten entledigt und im Adamskostüm über die Bühne schreitet. In seiner linken Hand – die rechte umklammert schließlich immer noch das Bier! – hält er einen etwas zerknickter Zettel: Ein Spickzettel, wie sich bald herausstellt. Denn wer möchte schon erwarten, dass eine im Jahr 1985 gegründete Band auch tatsächlich all die selbstgeschriebenen Texte auswendig kennt, erst recht, wenn sie erst im letzten Jahr entstanden sind? So wird beispielsweise der – extra für den ESC-Vorentscheid 2016 komponierte und mit einer Online-Petition mit Sicherheit fast durchgesetzte – Song „Erdrotation“ gekonnt, wenn auch rhythmisch etwas holprig, abgelesen.

Im Laufe des Abends folgen zahlreiche Hymnen über ausgeprägten Alkoholkonsum oder Sexismus und auch charmant-asoziale Songs der Gewaltverherrlichung bleiben nicht aus, die auf musikalischer Ebene den breitgefächerten Musikstil der Kassierer widerspiegeln und dem Sujet nach zu urteilen das Blut einer Alice Schwarzer wohl in Wallung bringen würden. Doch auch ich singe strahlend Lieder wie „Mach die Titten frei, ich will wichsen“, „Großes Glied“, „Sex mit dem Sozialarbeiter“ oder „Blumenkohl am Pillemann“ mit und lasse mich sogar zu meiner ersten Pogo-„Tanz“-Erfahrung hinreißen.

23:06 Uhr. Mittlerweile haben auch Gitarrist Nikolaj Sonnenscheiße und Drummer Volker Kampfgarten ihre Hosen ausgezogen und präsentieren dem Publikum eine kleine Showeinlage. Bassist Mitch Maestro moderiert das Geschehen. Während Sonnenscheiße mit angewinkelten Beinen auf der Bühne liegt, erklärt Maestro: „Der Kampfgarten wird nun seinen gigantischen-schäbigen Schädel tief in den After von Sonnenscheiße rammen, bis zu den Schultern!“ Gesagt, getan. Kampfgarten nimmt – mit seinem Kopf voran – Anlauf und donnert gegen Sonnenscheißes Gesäß. Die Menge tobt! Nie zuvor habe ich deutlicher sehen dürfen, wie einem Menschen in den Arsch gekrochen wurden.

23:52 Uhr. Als mit „Partylöwe“ um kurz vor Mitternacht das letzte Lied des Abends angestimmt wird, kann im ganzen Saal nicht einmal mehr der coolste Rocker stillhalten und tanzt ausgelassen zum Stimmungshit, ehe sich die Band mit einem dankbaren „Tschüss Wiesbaden!“ liebevoll von dem erschöpften Publikum verabschiedet. Am Merchandise-Stand treffen wir noch auf Gitarrist Nikolaj Sonnenscheiße, der uns zum krönenden Abschluss noch auf Bier einlädt. Ein gelungener Ausklang eines ausgezeichneten und definitiv einmaligen Konzertabends, dessen Wiederholung wohl hoffentlich nicht allzu lange auf sich warten lässt. Auch ich kann daher nur mit bestem Gewissen bestätigen: Die Kassierer MUSS man live erlebt haben!

Und so klingt das:

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