Wenn 64.000 Menschen in eine Halle strömen, um gemeinsam Musik zu zelebrieren, findet dort meist das einzige Konzert des*der jeweiligen Künstler*in in großer Umgebung statt. Oder man ist eben der absolute Megastar, heißt Ed Sheeran und macht das Ding gleich dreimal voll. Man kann halt.
Ganz, ganz kurz bekam man den Eindruck, der große Hype um den 31-jährigen Engländer wäre abgeklungen. Gipfelte mit dem “Divide”-Album 2017 der Erfolg – unglaubliche 13,6 Millionen Mal verkaufte sich die Platte weltweit -, war danach erstmal Talfahrt. Sowohl das experimentelle “No. 6 Collaborations Project” (2019) als auch das entschieden zu Nummer-sicher-gefahrene “Equals” (2021) blieben bis auf die beiden Leadsingles “I Don’t Care” und “Bad Habits” entschieden hinter den Erwartungen zurück und glichen fast schon einem kleinen Flop.
Am Ende ist jedoch Edward Christopher Sheeran, der 2017 durch Prince Charles zum Member des “Order of the British Empire” ernannt wurde, eine Persönlichkeit, die die Bühne braucht. Ein Straßenmusiker, der im Herzen davon immer etwas beibehält und das auch zeigen mag. Allerdings ist auf der Straße aufzutreten, wohl keine allzu gute Idee mehr. Immerhin wollen in den deutschen Städten Gelsenkirchen, München und Frankfurt jeweils über 60.000 Leute ihn sehen, hören und einige davon wahrscheinlich auch anfassen. Und das gleich dreimal – in jeder der drei Städte.
Gelsenkirchen macht mit seiner berühmten VELTINS-Arena – dem Ort für und auf Schalke – den Anfang und ist nach sämtlichen Konzerten in UK und Irland der Kick-off für die +-=÷x-Europa-Tour, die noch Halt in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Dänemark, Polen, Finnland, Österreich, Schweden und der Schweiz macht, bevor es dann gen Übersee geht. Am 7.7., einem Donnerstag und damit dem ersten Abend der drei Gigs im Pott, ist das Stadion, das zu den modernsten des Kontinents gehört, bis auf wenige Plätze komplett voll. Immerhin handelt es sich auch um den zunächst einzig geplanten Auftritt in der Stadt. Nur wegen der hohen Anfrage wurde um zwei Shows erweitert. Beginnt der Einlass schon bei sommerlich angenehmen Temperaturen nachmittags um 16 Uhr, dauert es anschließend noch über vier Stunden, bis man den rothaarigen Typen zu Gesicht bekommt.
Einlass super, viel Personal, alles cool – dafür Gastro und Toilettenbedingungen absolute Vollkatastrophen. Wer berechtigterweise vorher nochmal das Örtliche aufsuchen mag, eine Pommes essen und ein Getränk mit zum Platz nehmen möchte, sollte vieeeel Zeit mitbringen. Das dauert erfahrungsgemäß in Kombi problemlos eine Stunde. Ja, kein Witz. Hier muss dringend nachgebessert werden.
Statt zu viel Zeit außerhalb der Halle zu verbringen, lohnt es eher, sich die beiden Voracts anzuschauen. Ganz besonders die erste Künstlerin, die ran darf – Cat Burns – liefert super vorgetragenen Soul-Pop mit Hook-Potential. Ihr zum Anfang des Jahres erschienenes Lied “Go” schaffte in ihrer Heimat UK gar eine Platin-Auszeichnung. Bei uns chartete die Nummer nur kurz, dürfte aber nach dem Support in Gelsenkirchen in einigen Ohren einen Platz gefunden haben. Ab 18 Uhr gehört ihr für 25 Minuten die Bühne. Wirkt sie zwar etwas verloren in der wirklich riesigen Arena, ist das, was sie ins Mikro singt, ziemlich gut. Maisie Peters als zweiter Act bekommt gar 45 Minuten, die sie ab 19 Uhr nutzt. Die Britin ist ebenfalls in dem Land, das einfach schlichtweg die geilsten Musiker*innen hervorbringt, schon länger ein Geheimtipp. Ihre Songs sind zwar äußerst heterogener Pop, jedoch mit einer ziemlich penetranten Stimme. Die mag man oder eben nicht. Damit fällt und steht wohl das Urteil über sie. Zu Ed Sheeran passen aber beide Sängerinnen.
Die Halle erwähnten wir bereits. Und what the hell? Was ist denn das? Ja, Giga-Konzerte werden immer beeindruckender und kostspieliger. Aber dass ein so großer Raum gleich auf so vielen Flächen ausgefüllt wird, ist auch in “Gefühlt hab ich alles schon gesehen”-Zeiten erschlagend. Die Hauptbühne ist rund und zentriert in der Mitte des Innenraums. Schaut man genauer hin, erkennt man, dass es sich um eine Vinyl handelt. Was müssen die können, damit Musik entsteht? Richtig, sich drehen. Kann die auch. In der poppig-bunten Mitte verbirgt sich des Weiteren eine Hebebühne, im äußeren Kreis gleich mehrere Feuerwerfer. Die Fläche ist für einen Act der Größe Ed Sheerans vergleichsweise klein – dafür gibt es hingegen on top gleich sechs (!) weitere B-Stages, die um die Vinyl herumgebaut wurden. Auf vieren davon befinden sich jeweils ein bis zwei Musiker*innen – insgesamt sind es fünf -, zwei andere sind für die Tontechniker*innen gedacht. Jedes Bühnenelement besitzt Bildschirme in Form von Plektren, die schwebend von Kränen hängen. Hier wird permanent Ed projiziert. Um die Vinyl-Bühne gibt es einen runden Screen, auf dem zu jedem Song andere gestochen scharfe, stilistisch extrem schöne Grafiken laufen. Ein absoluter Overkill fürs Auge. Ob das am Ende nicht ziemlich vom Wesentlichen ablenkt?
Mit einem zehnminütigen Countdown startet um Punkt 20:15 Uhr zur besten deutschen Sendezeit das Hauptprogramm, das schließlich fast 135 Minuten dauern wird. Mit einem Knall und rockigen Riffs, die zum Albumopening “Tides” gehören, beginnt Ed Sheeran mit voller Bandbesetzung. Das Publikum freut sich, bleibt aber auf den Rängen größtenteils sitzen. Komisch. Springt man regulär nicht auf, sobald der Act startet?
Letztendlich dauert es drei Warm-Up-Songs und eine persönliche, liebevolle Begrüßung lang, bis Gelsenkirchen wach wird und dann aber auch angefixt durchzieht. “Shivers” gehörte zu den letzten großen Hits des Briten, steht auf der Setlist an vierter Stelle und stellt den platzenden Knoten dar. Ab hier ballert das Singer/Songwriter-Ausnahmetalent insgesamt 23 Titel lang durch eine der schönsten und ergreifendsten Shows, die man dieses Jahr wohl sehen kann.
Hier kann man direkt darauf Bezug nehmen, was gerade infrage gestellt wurde: Kann eine einzige Person 64.000 Menschen unterhalten? Sie kann. Tatsächlich verzichtet Ed Sheeran bei mindestens Zweidrittel des Gigs auf seine Band. Stattdessen sind seine Gitarren, sein Keyboard und die Loopstation die wahren Stars. Er erklärt, dass bei jedem seiner Konzerte keinerlei Backingtracks verwendet werden, alles live passiert und heute anders klingt als morgen. Liebe Pop-Künstler*innen dieser Welt, lest das ganz genau und verinnerlicht es bitte – es ist möglich, alles live zu machen. Ihr wollt oft nur nicht! Ed Sheeran macht aber nicht einen auf glatt geschliffen und durchgetaktet, sondern lässt die Songs so lange dauern, wie ihm danach ist. Bei einem Titel mit der Band unterbricht er sogar und möchte neu anfangen, weil das Zusammenspiel für ihn nicht richtig klingt. Live eben.
Sein Können, das sich gleichmäßig auf seinen fast durchweg tonal richtigen Gesang, seine wunderbaren Skills als Gitarrist und sein Verständnis für Musik als Materie aufteilt, bringt eine Arena mit so vielen Menschen zum Beben. Nicht zuletzt daran beteiligt: Der fabelhafte Sound. Wow, liebe Tontechniker*innen, Hut ab! Das habt ihr echt gut hingekriegt. Das klingt bereits beim Support super, wird bei Ed noch besser und sorgt für Gänsehaut genauso wie für zitternde Knie durch den Bass und die Drums.
Der Künstler läuft unzählige Runden im Kreis, wenn er nicht von allein im Kreis gefahren wird. Er motiviert mehrfach zum Mitsingen, zum Handylicht anschalten, zum Schreien. “Für die richtigen Töne bin ich hier, für die lauten ihr! Ihr müsst nicht gerade singen!”, scherzt er. Gelsenkirchen ist für so eine Menge an Leuten leise. Das liegt aber wahrscheinlich an dem Publikum, das Ed Sheeran bedient. Man kann ihn defacto nicht schlecht finden. Er ist der König der Mainstreammusik. Die ist wunderbar eingängig, berührend und toll vorgetragen, aber eben auch sehr oft “der beste Mix” im Radio. Allzu viele Hardcore-Fans gibt es an diesem Abend anscheinend nicht und einfach viele Neugierige bzw. Gelegenheitshörer*innen. Auch ok, mit Eskalation ist hier eben nur bedingt zu rechnen.
Musikalisch, im Bühnenbild und in dem traumhaften Licht gibt es aber nichts zu kritisieren. Fast nichts. Pluspunkte finden sich ohne Ende. Highlights wie der erste Hit “The A-Team”, Kuschelmomente bei “Perfect” und “Thinking Out Loud” wechseln sich ab mit tanzbaren Gute-Laune-Nummern a la “Castle On The Hill”, “I Don’t Care”, “Overpass Graffiti” und “Galway Girl”. Sein neustes Album wird nur mit sechs Songs vertreten, was aber genügt. Immerhin ist so viel anderes Material vorhanden, was die Herzen aufgehen lässt. Es lohnt sich, ab und zu die Augen zu schließen, dann sich einfach mal auf ein Element zu fokussieren oder auch nur Ed zu beobachten. Langweilig wird es zu keiner Sekunde, aber zu sehr vielen Sekunden einnehmend.
Trotz sehr bodenständiger, ursympathischer Ansagen gibt es zwei Abzüge: “I See Fire” fehlt. Wie? Geht? Das? Der Titelsong aus dem zweiten “Hobbit”-Film findet keinen Platz auf der Setlist. Aber so ist das eben, wenn man trotz zwei Millionen verkaufter Singles gleich 16 (!) andere Songs hat, die sich besser verkauft haben. Zweiter Aspekt, über den man diskutieren kann: Sheeran hat im Vergleich zu seinen ersten Konzerten eine Band dabei. Das thematisiert er sogar selbst. Er sah vor Jahren ein Damien Rice-Konzert, das ihn so in seinen Bann zog, dass er das gleiche Konzept für sich möchte: Außer ihm gibt es keine weiteren Leute auf der Bühne. Allerdings muss er zugeben, dass bei vielen seiner letzten Titel die aufwändige Instrumentierung und der Beat eine Rolle spielen, sodass er auch die Vorteile am vollen Livesound sieht. Diese werden jedoch nur begrenzt genutzt. Auf der einen Seite klingen “Galway Girl”, “Afterglow” und “Overpass Graffiti” schön rund, andererseits zieht er “Shape Of You” und “Bad Habits” – seine zwei wohl tanzbarsten Stücke – allein an der Loopstation durch. Nix da Studioversion. Das ist etwas schade. Wie gut man dazu doch die Hüfte hätte schwingen können.
Aber letztendlich: Ein Stück weit Geschmacksache. Der Weltstar zeigt in seinen mehr als zwei Stunden Bühnenprogramm sein vielseitiges Talent als Musiker, Sänger, Entertainer und bleibt dabei dennoch der coole Typ mit dem schlichten Shirt, auf dem “Gelsenkirchen” steht, und mit dem man ein Guinness in einer verrauchten Bar in Irland trinken mag. Ein wirklich fast perfektes Konzert, das trotz seiner furchteinflößenden Größe intime Momente schafft, Musik als solche in den Vordergrund stellt und für sehr viele zu recht die Top-Show des Jahres darstellen wird.
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Bild von Christopher.
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