Herbert Grönemeyer, Westfalenhalle Dortmund, 19.05.2023

herbert grönemeyer dortmund 2023

Eigentlich könnten wir an dieser Stelle kurzen Prozess machen. Wir verlinken euch unseren Artikel vom Konzert 2019 in Gelsenkirchen, ihr denkt euch nur anstatt der Veltins-Arena die Westfalenhalle und somit nur 12.000 Fans und ansonsten ist alles exakt genauso großartig wie vor fast vier Jahren. Aber so ganz einfach machen wir es uns natürlich nicht. Das macht es sich Herbert Grönemeyer ja schließlich auch nicht.

Aber tatsächlich ist damit das Fazit schon frühzeitig vorweggegriffen. Herbert Grönemeyer, mittlerweile bereits 67 Jahre jung, altert wenn überhaupt ein wenig im Gesicht. Alles andere bleibt quietschfidel, voller Tatendrang, mit einem unbändigen Maß an Energie beschenkt und im Kern einfach das ganz große Ding, was Deutschland zu bieten hat. Da hat man zwar erst wenige Wochen vorher an exakt derselben Location, der Dortmunder Westfalenhalle, fünfmal Helene Fischer sehen können, die im letzten Jahrzehnt zumindest verkaufstechnisch den legendären Wahl-Bochumer überholen konnte, aber Masse ist eben nicht gleich Klasse. Die gibt’s nämlich bei dem fast 30 Jahre älteren Künstler zu sehen, der besonders den Zugang zu seinem Publikum und den Boden unter den Füßen nie verliert.

Dabei gab es 2023 eine Neuigkeit: Das ist los, das im März erschienene 17. Album, ist das erste von Grönemeyer, das seit 1983 – das sind 40 (!) Jahre, falls ihr’s nicht so schnell realisiert bekommt – nicht Platz 1 der Charts erreichen konnte. Das liegt aber nicht an der Qualität, auch nicht an dem sinkenden Interesse, sondern schlichtweg am Veröffentlichungsdatum. Das teilte er sich nämlich mit der Neuen Depeche Mode, gegen die man sich dann geschlagen geben musste. Wäre es früher gängiger gewesen, auch nachträglich noch die 1 zu holen, ist das heute immer schwieriger. Vielleicht gelingt es ihm im Laufe der nächsten Wochen trotzdem noch.

Denn spätestens nachdem man die 16 Gigs plus ein Warm-Up umfassende Tour entweder ganz bewusst oder auch nur als Begleitung besucht hat, verfällt man zum wiederholten Male, endlich oder endgültig dem Wahn des Ausnahmetalents. Mit einer Verspätung von vier Minuten beginnt die Show in der Reviermetropole nahezu pünktlich. Gigantische 165 Minuten wird es dauern, bis das Saallicht angeht.

Doch bevor Dortmund 34 Songs lang mitsingt, winkt, weint und sogar auf Kommando tanzt, gibt es mit Schmyt im Vorprogramm eher untypische Klänge. Zumindest, wenn für gewöhnlich eher Grönemeyer zuhause läuft. Doch der interessiert sich schon immer für die sich stets wandelnde deutsche Musiklandschaft und bleibt am Puls der Zeit. Er unterstützt Newcomer*innen oder einfach Acts, die er für besonders gut hält. Schmyt kann mit seinem vor genau einem Jahr veröffentlichten Debütalbum bereits selbst kleinere Hallen füllen, nutzt aber trotzdem die Gelegenheit, für solch einen Mammutstar supporten zu dürfen. Während des Einlasses um 19 Uhr gibt es bereits erste Musik, die jedoch nicht so gut funktioniert. Nicht, weil der R’n’B-lastige Rap, den er macht, schlecht sei, sondern einfach, weil es das falsche Publikum ist. Möge Balbina, die bei anderen Shows der Tour ran darf, besser aufgenommen werden.

Kann man vor 20 Uhr also noch denken, Dortmund sei ebenso älter geworden, kann man diese Bedenken bereits über Bord werfen, bevor Grönemeyer den ersten Ton singt. Der Applaus ist schon beim Betreten der Stage frenetisch. Doch wer denkt, das sei laut, irrt. Es dauert wirklich nur Augenblicke, bis alle im Feeling sind. Das liegt aber eben an dem Akteur, der in dem Alter, in dem die meisten bereits pensioniert wurden, trotzdem pausenlos und ohne ein Quäntchen einzubüßen, pures Adrenalin verstreut. Er springt, er tanzt, er macht impulsive Begegnungen. Das ist teilweise unkoordiniert, ein wenig witzig, aber immer so echt. Von innen heraus, nicht überlegt, nicht choreographiert, nicht durchgespielt. Es passiert durch Atmosphäre.

Von der hat Dortmund so viel, dass es gleich mehrere Konzerterlebnisse umgreift und gebündelt aufs Tablett legt. Natürlich ist das für Herbert Heimat, wie er selbst anfangs sagt. Zwar wohnt er schon lange in Berlin, aber das Gefühl ist im Pott einfach anders. Zwar sind hier im Vergleich zur Schalke-Arena, die in drei Wochen den Tour-Abschluss darstellt, nur ein Viertel so viele Gäst*innen, aber von der Lautstärke fällt kein Unterschied auf. Es ist unmöglich, sich dieser Aura, die in der Luft liegt, zu entziehen. Nur die wenigsten Songs über sitzen die Menschen auf den Rängen. Wenn, um mal durchzuschnaufen. Ist man schon vom bloßen Zuschauen und Mitklatschen ausgepowert, zieht der sympathische und gebildete Sänger mit so viel Leichtigkeit und Spielfreude durch, dass der Eindruck entsteht, er könne noch zwei Stunden dranhängen.

Allerspätestens beim sechsten Song, das „Steigerlied“, auch bekannt als „Glück auf“, rauscht eine Gänsehaut dreimal dem Körper hoch und runter. Das geht gnadenlos in „Bochum“ über. Feuchte Augen, Ekstase. Hat man das als Ruhrgebietler*in nicht mindestens einmal mitbekommen, wird selbst eine noch so gut abgearbeitete Bucketlist mit „Dingen, die man im Leben gemacht haben sollte“ hinfällig. Genau dieses Livekinomoment gibt es in den fast drei Stunden Spielzeit immer und immer wieder. „Musik, nur wenn sie laut ist“, „Männer“, „Was soll das“, „Halt mich“, „Zeit, dass sich was dreht“, „Bleibt alles anders“, „Mambo“, „Mensch“. Songs mit Lyrics und Kompositionen on point, deutsches Kulturgut. „Der Weg“ – solo am Klavier – sowie „Flugzeuge im Bauch“ im Jazzgewand mit Cello und „Land unter“ mit akustischer Untermalung sind emotionale Felsen. Sie erdrücken und sind parallel sichere Plätze, auf denen man nie untergeht.

Die elf Songs vom neuen Werk Das ist los, das uns schon als Studioversion sehr gut gefallen hat, reihen sich ohne Anstrengung fantastisch ins Gesamtbild ein. Zu „Der Schlüssel“ gibt es die Entstehungsgeschichte, nämlich die Situation in der Ukraine und das Verlassen des eigenen Landes. Herbert Grönemeyer erwähnt, wie unglaublich er die Offenheit der Deutschen fand, sodass auch der Song hervorragend das transportiert, was er möchte. „Turmhoch“ hingegen sei sein schon x-mal von den Medien gefordertes weibliches Gegenstück zu „Männer“. Bei „Angstfrei“ hat man das Gefühl, man höre einen Klassiker, der schon immer im Programm war. „Eine Tonne Blei“ berichtet davon, dass wir ständig unsere Partner*innen mit unseren persönlichen Problemen belasten und denken, wir können mit dem- oder derjenigen glücklich werden, alleine jedoch nicht. Ertappt. Ganz nebenbei hat der in Göttingen geborene Künstler auch gesanglich einen wahnsinnig guten Abend. Die Art des Gesangs ist seit jeher Geschmacksache – aber die riesige Range und tonale Sicherheit, die hier in einem solchen Alter geboten wird – zu hören zum Beispiel bei „Demo (Letzter Tag)“ oder auch „Flugzeuge im Bauch“ – ist eine richtig, richtig starke Leistung.

Die große, aber nicht zu voluminöse Bühne hat vielerlei Lichteffekte, die erst im Laufe der Show auftauchen. Die Farben sind dem Album entsprechend eher in Erdtönen gehalten und lenken mitsamt der Videos auf der Leinwand nie von der Musik ab. Der Sound der neunköpfigen Band, die in starken Momenten wundervolle Soli auf einer E-Gitarre, Akkordeon, einer Hammondorgel oder auch einem Saxophon vorträgt, ist durchweg fantastisch, Herbert Grönemeyer an manchen Stellen etwas leise, aber das ist auch das Einzige, was man nörgeln kann. Vielleicht noch, dass man „Stück vom Himmel“ und „Kinder an die Macht“ nicht hören wird, aber das ist ein Schönheitsmakel an einem wirklich perfekten Abend. Natürlich gibt es Konzerte, die durch ihre Showelemente in Erinnerung bleiben. Und ja, ganz ohne Eyepopper wär’s langweilig. Aber wenn Herbert Grönemeyer in seiner Hood zockt, komplett loslässt, völlig ausrastet und 12.000 Menschen zu einem „Wir“ vereint, ist das allein nur deswegen schon 10 von 10 und nichts darunter.

Und so hört sich das an:

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Foto von Christopher

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