Der auffallende Schotte Lewis Capaldi hat es geschafft einige der größten Hits der letzten halben Dekade abzuwerfen. Auch sein erstes Album wurde von vielen Seiten wohlwollend aufgenommen. Nun folgt nach einer unerwartet langen Pause von exakt vier Jahren sein Nachfolger. Alina und Christopher, die ihn beide auch schon live gesehen haben, haben Broken By Desire To Be Heavenly Sent für euch mal analysiert:
Alinas Eindrücke:
Mit seinem Debütalbum “Divinely Uninspired to a Hellish Extent” gelang Singer-Songwriter Lewis Capaldi 2019 der große Durchbruch und gleichzeitig ein bemerkenswerter Start in seine Musikkarriere. Seine Single “Someone You Loved” gehört zu einer der meistverkauften Singles überhaupt und auch der Track “Before You Go” schlug in der Musikwelt wie eine Bombe ein. Knapp vier Jahre später ist der schottische Sänger mit seinem zweiten Album Broken By Desire To Be Heavenly Sent zurück, das sich (leider) nahtlos an den Vorgänger anschließt.
Legen wir die Karten auf den Tisch: Lewis Capaldis Debütalbum ist eines dieser Alben, von denen auch in 20 oder 30 Jahren noch gesprochen wird, weil es einfach so gut ist. Vielleicht gerade deswegen, weil den Sänger damals noch niemand wirklich auf dem Schirm hatte und weil seine ersten Singles quasi so im Ohrwurm-Repertoire mit drin sind wie Ed Sheerans „Perfect“ oder One Directions „Night Changes“. Album Nummer 2 schafft es allerdings nicht, an diesen bemerkenswerten Erfolg anzuknüpfen. Und das, obwohl gleich die ersten zwei Songs „Forget Me“ und „Wish You The Best“ unfassbar gut sind.
Mit “Forget Me” hat Lewis Capaldi eine regelrechte Hymne kreiert, auf der er nicht nur stimmlich brilliert, sondern bei der auch sonst alles zusammenpasst: Sie ist powervoll, der Text ist brillant und sie hat Ohrwurmgarantie. Auch das deutlich ruhigere “Wish You The Best” ist schön konzipiert, sehr melodisch und super emotional. Mit “Pointless”, an dem Ed Sheeran mitgeschrieben hat, gibt Capaldi erstmals den Herzschmerz ab („I love when she laughs for no reason. And her love’s the reason I′m here. She knows when I’m hurt and I know when she′s feeling scared”).
Die restlichen Tracks des Albums laufen nahezu alle nach dem gleichen Schema ab: ruhige Melodien und ein sanfter, stimmlicher Einstieg. Irgendwann bauscht sich der Song auf, oftmals steigt ein Chorgesang mit ein – alles sehr dramatisch und theatralisch. Im Vordergrund steht die Stimme Capaldis, die ohne Frage supergut ist. Vor allem die kratzigen, rauchigen Parts. Aber es klingt einfach alles viel zu ähnlich. “Haven’t You Ever Seen Love Before” beispielsweise, klingt wie ein Mix alter Lewis Capaldi Singles. Auch “Love The Hell Out Of You” geht im Einerlei vollkommen unter. Beim Durchhören des Albums kommt irgendwann der Punkt, an dem man sich denkt, dass es mit dem Herzschmerz jetzt auch mal reicht. Gleichzeitig klingt es etwas so, als würde Capaldi unbedingt in jeden Song die ganz hohen Töne mit hineinpressen wollen – geht das nicht auch ohne?
Es fehlt dem Album deutlich an Variation – und ja, auch an catchy Momenten (abseits von “Forget Me”). Nahezu euphorisch aufgeatmet werden darf beim Up-Tempo-Song “Heavenly Kind Of State Of Mind”, der alleine durch den deutlich tanzbareren Rhythmus heraussticht. Textlich sticht “The Pretender” noch einmal heraus („I spend almost all of my time. Feeling like I’m falling even further behind. And I know I’m so good at seeming. Like I’m not on the edge of a knife. I feel like everything I do is a lie”). Gerade weil Lewis Capaldi im Musikbusiness gerne gegen den Strom schwimmt und sich nichts aus den dort herrschenden Netiquetten macht, wirkt dieser Track besonders authentisch.
Zwölf Tracks beinhaltet Lewis Capaldis neues Album, von denen keiner wirklich schlecht ist, aber die meisten auch nicht wirklich gut. Bis auf die bereits veröffentlichten Tracks als Singles bietet Broken By Desire To Be Heavenly Sent keine großen Überraschungen und schafft es deswegen auch nicht an das Debütalbum heranzureichen. Es klingt alles zu ähnlich und – Herzschmerz schön und gut – irgendwann wird es leider langweilig. Vielleicht würde es gerade Lewis Capaldi guttun einmal über den Tellerrand zu schauen und nicht auf Nummer sicher zu gehen. Denn genau das ist Broken By Desire To Be Heavenly Sent: eine zu sichere Nummer.
Christopher sagt dazu:
Wer Lewis Capaldi auf seinen Social-Media-Accounts folgt, hat auf jeden Fall eine echt gute Zeit. Der 26-jährige Schotte nimmt sich Zero ernst, inszeniert sich auch mal absichtlich unschick und verballert. Das macht natürlich hochsympathisch und nahbar. Allerdings scheint der britische Superstar, der zwischenzeitlich mit Sam Smith, aber noch mehr mit Ed Sheeran in einem Atemzug genannt wird, zumindest musikalisch unbedingt gewollt zu werden und so gar keinen Edge zuzulassen.
Broken By Desire To Be Heavenly Sent ist ein exakt genauso wenig griffiger Titel wie der Vorgänger “Divinely Uninspired To A Hellish Extent” aus 2019. Ja, vier Jahre ist das Debüt schon wieder her. Eine vergleichsweise ziemlich lange Zeit für einen Artist, der von Beginn an ziemlich gefeiert wird und mit 2,3 Millionen Exemplaren auch richtig gut verkauft hat. Schon bei der ersten LP ging Capaldi größtenteils sehr auf Nummer sicher, probierte sich nur im Minimalumfang aus. Doch nun ist klar, worauf die Welt abfährt. 12 Millionen Verkäufe für “Someone You Loved”, über 5 Millionen für “Before You Go”.
Also geht es genau in diesem Stil weiter. Und zwar nur in diesem Stil. Gnadenlos. Für den zweiten Longplayer des Musikers braucht man wirklich viel Durchhaltevermögen und auch eine gute Portion Toleranz, denn die zwölf neuen Kompositionen – an allen ist Lewis Capaldi mitbeteiligt, auch fast durchweg bei der Produktion – sind das exakte Gegenteil von facettenreich. Nur in den allerkleinsten Portiönchen wird mal variiert, Leiden und Kitsch werden hingegen großgeschrieben.
Das absolute Problem an Broken By Desire To Be Heavenly Sent ist die schematische Herangehensweise: Reduzierte Strophe in tiefer Lage, gnadenlos hochgesetzter Refrain, bei dem der Sänger einen mit viel wutentbrannter Trauer eigentlich immer anschreit. Nur eben in Tönen. Das ist auf jeden Fall ein Signature Move und somit klar, dass es auf der Platte passiert – aber es passiert immer und immer und immer und immer wieder. Dabei müsste Capaldi doch eigentlich aus den letzten Jahren vor allen Dingen gelernt haben, dass das seiner Stimme so gar nicht gut tut. Auf sämtlichen Konzerten werden viele Songs tiefer gespielt, einfach weil er sie sonst keine Stunde durchhält. Schwierige Parts lässt er Fans singen, manches wird abgebrochen, Shows ständig verschoben. Das ist so langsam Tagesordnung. Und das einfach aus dem Grund, weil er zwar die Höhen theoretisch hat, aber sie ihm praktisch einfach nicht richtig gelingen.
Was auch an der nicht wirklich guten Gesangstechnik liegt, die er nutzt. Viel Pressen, enger Kehlkopf, wenig Zwerchfell. Ok, wir driften gerade ein wenig in Sphären ab, die beim Lesen arg langweilen können, aber es ärgert wirklich, wenn man den echt liebenswerten Typen schon mal live gesehen hat und man somit direkt beim ersten Durchlauf denkt: “Jo, wird man so niemals bei einem Konzert hören”. Deswegen: Vielleicht einfach Songs mal zwei, drei Halbtöne tiefer komponieren? Auch wenn die Stimme per se einen tollen Sound hat und natürlich das leicht Krächzende, Wegknickende etwas Schönes besitzt, ist es trotzdem ständig dasselbe und dadurch auch schnell abgenudelt. Es gibt diesen einen gewissen Ton, bei dem man ganz genau weiß, wie er ihn im Refrain schmettert. Und zack, da ist er dann auch schon.
Eigentlich überrascht LP Nr. 2 nur exakt zweimal. Das eine Beispiel wäre “Any Kind Of Life”, in dem es eben noch einen Ton höher geht als bei den Malen davor. Hat einen kurzen “Wow”-Effekt, löst aber schon beim Zuhören Halsschmerzen aus, weil es einfach so ungesund klingt. Textlich bewegt sich dieser genauso wie sämtliche anderen Titel immer zwischen “Ich bin so ein Arsch, du musst mich hassen”-, “Eine Welt ohne dich wäre undenkbar”- und “Wir zwei gegen alle”-Plattitüden. Auch hier gibt es nahezu nichts wirklich Erwähnenswertes. Ach ja, Positivbeispiel Zwei: “Leave Me Slowly”. Und das ist mal ernsthaft positiv. 80s-Synthie-Beat, der ordentlich an Prince´ “Purple Rain” erinnert, Gesang (fast! Fast hätte er’s geschafft) ausschließlich in Wohlfühllage, die auch so Emotion transportiert. Ein klarer Tipp für die melancholische Summer-Playlist, weil’s mal einen anderen Fleck Capaldis zeigt. Seite wäre übertrieben.
Wirklich, es ist unglaublich schade, dass aus diesem echt quirligen und nicht glatten Typen so viel übertrieben weinerliche, fast schon unterwürfige Musik rauskommt. Außerdem muss man sich echt Sorgen um seine Stimmbänder machen, die das wahrscheinlich keine fünf Jahre mehr schaffen. Sorry.
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