Petrol Girls, Tsunami Club Köln, 13.02.2020

Petrol Girls

Stereotypen von Genres verfestigen sich durch Repitition und Bevorteilung bestimmter Abläufe und Protagonisten gegenüber marginalisierten Gruppen. Kein Wunder also, dass man beim Wort „Post-Hardcore“ schlanke weiße Männer vor Augen hat, die sich zwischen Sprechgesang und Schreieinlagen über emotionale Befindlichkeiten auslassen. Dabei konnte diese Spielart doch schon immer mehr als die klassische The-Wave-Struktur und sollte gerade im Jahr 2020 auch offen für Reformation sein. Einen besonderen Dienst an der Sache trägt hier das queerfeministische Kollektiv Petrol Girls, die sich im vergangenen Jahr mit dem grandiosen Zweitwerk „Cut & Stitch“ auf viele Bestenlisten geschlichen haben. Hier birgt jeder Song eine politische Agenda, jeder Schrei ein kollektives Rückgrat, jedes Interlude seine Thesen zum Zeitgeschehen. Zur Fortschreibung des Genre-Kanons braucht es da eigentlich nur noch denkwürdige Live-Performances. Und von denen gibt es auf der größtenteils ausverkauften Tour der Band mehr als genug.

Swan Songs

Energie-Barometer vorm Überlaufen

Im prall gefüllten Tsunami Club dürfen die Swan Songs (Foto) aufheizen, deren hemdsärmerliger Indie-Punk das Wichtigste mitbringt: flotte Riffs, eingängige Refrains, einige für die Location beeindruckend ausgefeilte Atmosphärenwechsel. Vor allem der Zweigesang des Frontmanns Benjamin Burzel, den man übrigens auch von seinem vom Sound her übrigens sehr ähnlichen Projekt Idle Class kennt, und seinem weiblichen Konterpart am Bass sorgt für spannende Momente. Teilweise wirkt das Ganze noch sympathisch unbeholfen, aber dafür umso ehrlicher. Wo es hier aber noch bei kurzen Ansagen zu Mental Health bleibt, nutzt der Hauptact die Bühne für ein riesiges Politikum. Das fängt schon damit an, dass Sängerin Ren Aldridge den Bereich vor der Bühne als Safe Space für Frauen und queere Personen aller Art deklariert. Gerade Songs wie der druckvolle Opener „The Sound“ würden auch ohne jeglichen Rahmen wie ein fettes Ausrufezeichen im Raum stehen und es mit den Großen des Genres aufnehmen, keine Frage. Doch der heutige Abend bietet eben viel mehr als das übliche Post-Hardcore-Erlebnis.

Politik und Punk

Schon ein Blick auf den Merch-Stand oder in die Booklets der Band spricht Bände: Die Shirts sind alle fair produziert, neben den eigenen Produkten wird auch der „Solidarity Not Silence“-Charity und diversen Zines Platz geboten. Im Verlauf des gut einstündigen Auftritts der Band lässt sich Aldridge über Missbrauch im Musikbusiness und Abtreibungsgegner aus, ruft zum hoffnungsvollen Kollektivdenken für die Zukunft und für den Erhalt des nah gelegenen K18 auf, thematisiert die dramatische Lage in Rojava genau so wie die Dekonstruktion von Gender und Nationen. Das volle Feminismus-Programm, für das die Sängerin aber auch jedes Mal lautstarken Applaus erntet. Dazwischen gibt es aber eben auch die perfekten Revolutionssongs. Im Zweigeschrei mit Schlagzeuger Zock wird in „Talk In Tongues“ toxischer Männlichkeit der Hahn abgedreht, „Big Mouth“ entfaltet live erst sein volles Hymnenpotential, „No Love For A Nation“ ist von der deutschen Parole inspiriert und sollte auf jeder Antifa-Demo zum Inventar gehören.

Aber die Petrol Girls sind vor allem Sprachrohr der Unterdrückten, funktionieren weniger als Gallionsfiguren auf der entfernten Bühne, sondern als Verbündete, als Allies, als Gleichgesinnte. Wenn sich Aldridge mitten im Publikum mit ihren Fans „Touch me again and I’ll fucking kill you“ oder das Werwolfsheulen der alles zerstörende Zugabe „Restless“ von der Seele schreit, hat dieses Kollektiv einen immensen kathartischen Effekt. Als die Lichter wieder anspringen, sieht man viele junge Frauen, die sich in den Armen liegen und die Tränen wegwischen. Post-Hardcore kann eben auch das: Gesellschaftliche Traumata thematisieren, Diskriminierungen mit unangepasstem Krawall den Mittelfinger zeigen, das Gemeinschaftsgefühl der Verletzten stärken. Und die Petrol Girls gehören zur revolutionären Speerspitze dieser politischen Neuausrichtung.

Und so hört sich das an:

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Petrol Girls live 2020:

  • 18.02. Hafenklang, Hamburg (ausverkauft)
  • 23.02. Kantine Berghain, Berlin (ausverkauft)

Beitragsbilder von Julia.

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