Musikfans müssen dieses Jahr wirklich stark sein. Die noch immer anhaltende Krisenlage hat nahezu das komplette Geschäft lahmgelegt. Unzählige Alben werden mehrere Monate verschoben, um ausreichend beworben werden zu können, Konzerte und Festivals sind seit fast zwei Monaten gänzlich gestrichen, Großveranstaltungen werden es auch bis im September noch bleiben.
Doch Stück für Stück erkämpft man sich die Bühnen zurück oder funktioniert sie einfach um. Müssen gerade kleine oder mittelgroße Künstler um ihre Existenz bangen, da sämtliche ihrer Auftritte und somit Geldeinnahmen gestrichen wurden, erlebt ein alternatives, fast schon vergessenes Medium eine Renaissance: das Autokino. In den 1930ern bereits in den USA erfunden, erreichte das Freilichtkino, das mit dem eigenen fahrbaren Untersatz besucht wird, in Deutschland in den 70ern seinen Höhepunkt – und boomt nun so richtig. Mussten wegen der Kontaktsperre alle regulären Kinos schließen, ist es hier möglich, nur mit seinen engsten Mitmenschen zusammenzusitzen. Dauerbetriebene Autokinos, von denen es bis vor einem guten Monat nur fünf (!) in ganz Deutschland gab, waren teils Wochen vorher ausverkauft. Nun gibt es quasi in jeder Stadt ein eigenes. Ein Lichtblick am tristen Corona-Himmel.
Und genau da kommen nun auch Musiker ins Spiel. Großflächige Autokinos mit nötigem Platz werden nun zu Konzertbühnen umfunktioniert. Was zunächst absurd klingt und höchstwahrscheinlich unter normalen Umständen kaum Interessenten findet, ist aktuell das Ding schlechthin. Angefangen hat damit der eh für seine kreativen Ideen bekannte Alligatoah vor nicht einmal zwei Wochen in Düsseldorf (lest HIER nochmal den Bericht von unserer Kollegin Yvonne). Innerhalb von Minuten war die Vorstellung ausverkauft, das einen Tag später stattfindende Zusatzkonzert auch. Ein Fakt, auf den viele Künstler wohl nur gewartet haben, sodass nur wenige Tage später die Autokinoshows wie Pilze aus dem Boden stampfen. Comedy and andere Sparten ziehen ebenso nach, selbst ganze Festivals sind im Gespräch. Natürlich ist das nicht die optimalste Idee, trotz einer Kontaktsperre Menschen zu motivieren, in eine andere Stadt zu fahren, dort womöglich Viren zu verteilen und Leute ohne Auto ziemlich dumm aus der Wäsche schauen zu lassen, aber wir wollen hier nicht päpstlicher sein als der Papst. Musik! Live! Wie haben wir es doch vermisst!
Mit Schiller steht also in der zweiten Autokino-Woche ein Künstler auf der Bühne, den man wohl weniger bei diesem Konzept erwartet hätte. Setzen die meisten Musiker, die sich auf die Autokinobühne trauen, doch eher auf mitreißende, laute und knallende Elemente, um zumindest auf den Autositzen die Sau rauszulassen, ist der Hamburger, der sich bereits seit über 20 Jahren im Ambient-Bereich austobt, eher für sphärische, entspannende Klänge bekannt.
Ursprünglich nur als Projekt geplant, hat Christopher von Deylen, wie Schiller bürgerlich heißt, es in der Zeit auf stolze zehn Longplayer gebracht, von denen sechs (!) die Albumchartspitze erklommen haben. Für vier Alben gab es Platin, für zwei Gold. Dennoch ist er nicht omnipräsent und insbesondere sein Gesicht stets im Hintergrund. Es geht in den Songs eben um Beats und Atmosphäre und nur ab und zu um Gesang oder auch vorgetragene Texte, die dann auch immer von Gästen wie Peter Heppner, Thomas D., Unheilig oder Colbie Caillat kommen.
Mit seinem aktuellen Werk „Morgenstund“ waren dieses Jahr mehrere Gigs geplant, die sich selbstverständlich schon von selbst erledigt haben. Umso spannender ist für Schiller die Möglichkeit, am Sonntag, dem 3.5.2020, Düsseldorfs Autokino zu bespielen, das nun schon in Konzerten erprobt ist. Zwar hat der spontane und nur zehn Tage vorher bestimmte Termin, wie Schiller am Abend selbst erzählt, doch dazu geführt, dass die Show nicht komplett ausverkauft ist – gut besucht ist sie mit knapp 350 Besuchern aber trotzdem.
Normalerweise spielt das Publikum und mit ihm einhergehende Reaktionen eine große Rolle bei einem Konzert. Doch diesmal sind Aussagen über die Zuschauer gar nicht so leicht zu treffen, da man sie so gut wie gar nicht zu Gesicht bekommt. Tendenziell bewegen sich hier aber nur wenige Besucher unter 30 Jahren über den Parkplatz, um Snacks zu kaufen oder die Toiletten aufzusuchen, für alles andere wird man direkt zurück ins Auto gebeten. Die Autokennzeichen versprechen Anreisen aus guten 100km umfällt. Beifall gibt es in Form von Hupen und aufblinkenden Lichtern.
Organisatorisch ist bis zum Konzertbeginn vieles gut, aber nicht alles. Der Einlass verzögert sich um eine gute Viertelstunde und das Auftreten von Schiller um eine halbe. Gegen halb 10 ist der doch etwas lange Werbeblock inklusive Die Toten Hosen-Musik vorbei und alle Pkws mit ausgeschalteten Lichtern, dafür aber angeschalteten Radios auf ihren Plätzen.
Ein instrumentaler Elektrosound dringt durch die Radioboxen und stimmt darauf ein, dass es endlich losgehen kann. Wenige Sekunden später erstrahlt die riesige Leinwand in sterilen grauen, weißen und schwarzen Tönen und zeigt virtuelle Welten. Es dauert höchstens zwei Minuten und es folgt… Stille! Nein, nicht der Track „Stille“ von Schiller, sondern ein Abbruch. Nichts ist mehr zu hören. Christopher von Deylen meldet sich unmittelbar zu Wort, begrüßt sein Publikum dankbar, herzlich und mit eindringlicher Stimme. Er bittet um Entschuldigung, sagt, es brauche noch kurze Zeit, um die Technik wiederherzustellen und dann ginge es weiter. Nach fünf Minuten beginnt die Show erneut, zeigt in großen Buchstaben das Wort „Lightyears“, erzeugt gute Clubatmosphäre, sodass man auf den Sitzen doch hin- und herwackelt, den Bass spüren möchte, etwas weiter aufdreht, und hält aber erneut nur gute zehn Minuten an. Zweiter Abbruch, diesmal für die doppelte Länge als beim ersten Eingriff.
Schiller probiert gelassen und weiterhin äußerst wertschätzend die Situation zu beschreiben und das Publikum bei Laune zu halten. Er spricht von einem waghalsigen Experiment, von fragilen technischen Elementen, von einer sehr spontanen Konzeptidee und von einem Konzert, das er schon jetzt nie mehr vergessen wird. Er bemüht sich, trotzdem hört man seine Nervosität in seinen doch mittlerweile verunsichert wirkenden Äußerungen. Ein Hauch Mitleid kommt auf. Zum Glück gibt es durch Hupen und Lichter seitens der Autos immer wieder Bestätigung, dass sowas passieren kann. Kann es auch. Nur bei ungefähr 115€ pro PKW ist die Erwartungshaltung doch eine andere als beim typischen Autokinobesuch. Preise, wie bei einem regulären Konzert – somit auch die Erwartungen an ein reguläres Konzert?
Die müssen tatsächlich über Bord geworfen werden. Die Bewegungsmöglichkeiten sind für die Gäste eingeschränkt. Man kann weder richtig tanzen noch wirklich entspannt im Stuhl versinken, sich nicht mit den gerade kennengelernten Nachbarn austauschen und auch keine großen Contemporary-Tänzer oder Instrumentalisten bestaunen. Und trotzdem hat das Konzert in seinen Höhepunkten richtig intensive Momente. Es wurden mehrere große Laser installiert, die bis zur Mitte des Parkplatzes reichen und das Düsseldorfer Messegelände in schöne Farben hüllen. Wie bestellt fällt leichter Regen, der die optische Komponente sogar noch verstärkt. Nicht so stark, dass es einen stört, sondern gerade genug, um tolle Akzente zu setzen und eine kleine Traumwelt zu erschaffen. Auch die Tatsache, dass, wenn man kurz die Musik auf stumm dreht und das Fenster ein kleines Stück öffnet, plötzliche Totenstille auf einem Konzert wahrnimmt, ist ebenso unvergesslich.
Schiller muss das komplette Konzert umkrempeln. Als Überraschungsgast hat er Thorsten Quaeschning von Tangerine Dream eingeladen. Eine Musikformation, die als Pioniere im Bereich elektronischer Musik gelten und Schiller stets Inspiration boten. Er erwähnt diesen Gastauftritt als besondere Ehre. Ein Gastauftritt, der eigentlich fürs letzte Drittel des Gigs geplant war und nun die letzte Rettung ist. Eine Echtzeit-Komposition ist geplant, von der beide Künstler nicht wissen, wie lang sie gehen wird und wie sie klingt. Quasi eine Jam-Session für DJs, wenn man so will. Am Ende geht das doch etwas zu ruhige, reduzierte, wenn auch entspannende Stück eine Dreiviertelstunde und beinhaltet Teile des Schiller-Tracks „Berlin – Moskau“.
Schade, dass gerade dieses dann doch einmalige Erlebnis optisch etwas zu minimalistisch wirkt. Wahrscheinlich ist besonders die Leinwand daran schuld, dass die technischen Probleme anfangs zu zwei Abbrüchen führten. Während der Dreiviertelstunde Improvisation bleibt der Screen jedoch fast komplett aus oder zeigt nur vereinzelt Landschaftsaufnahmen, die dafür ganz exzellent fotografiert sind. Viel zu selten zeigen Livekameras das Werkeln der beiden Künstler, die jeweils an einem Ende der langen Bühne unter einem Vordach stehen und mit unzähligen Computern und Synthesizern ausgestattet sind. Die Gesichter gibt es kein einziges Mal in Großaufnahme. Warum nicht? Das wären Kleinigkeiten, die die grundlegend vorhandenen Defizite bei einem Autokinokonzert etwas ausgleichen könnten. Im Anschluss folgt eine weitere fast 20-minütige Session, die etwas mehr Beats beinhaltet und doch nochmal so mitreißt wie das Opening.
Der Applaus fällt trotz einer sehr kuriosen Vorstellung großzügig aus. Man merkt, dass man sich aktuell mit jedem schönen Moment zufriedener gibt als sonst und Ansprüche heruntergeschraubt werden. Der Künstler kann einem auch sowieso etwas leidtun. Schiller ist sehr dankbar und ambitioniert, selbst nicht ganz davon überzeugt, was gerade geschah und verweist darauf, dass es beim nächsten Auftritt besser klappen wird. Viele Autos fahren bereits Richtung Ausgang als er sich doch noch dazu entschließt, spontan eine weitere Zugabe hinzuzufügen, die auch Schillers meditativen und bekannten Pianosound einfließen lässt. Am Ende bleibt ein instrumentaler Gig und eine reine musikalische Spielzeit von ca. 80 Minuten. Um 23:10 Uhr wird das Gelände schon wieder verlassen, was im Vergleich zum Einlass auch schnell vonstatten geht.
Nahezu nichts war so, wie es wohl geplant war – sowohl von Seiten der Musiker als auch von Seiten der Zuschauer. Man war doch öfter hin- und hergerissen, was man nun am besten tun sollte. Die Augen schließen und den Sitz weit zurück machen? Zur Bühne schauen? Sich nett mit seiner Begleitung unterhalten und das Konzert als Untermalung nutzen? In den gelungenen Momenten hat aber die Show gezeigt, dass eine Atmosphäre entstehen kann, die es so auf regulären Konzerten nicht gibt und man gerne in dem doch sehr skurrilen Jahr 2020 im Kopf behält. Schiller, Kopf hoch! War eine Premiere und somit ein Versuch, den du beim nächsten Mal besser machen wirst. Mit Sicherheit.
Und so hört sich das an:
Website / Facebook / Instagram / Twitter
Foto von Christopher.
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.