Ganz langsam, aber sicher verschwinden sie alle Stück für Stück. Die Grandes Dames des deutschen Schlagers – also die wirklich wegweisenden, die wir alle kennen und die das Genre über mehrere Epochen beeinflusst haben – suchen ihre wohlverdiente Ruhe. Natürlich sind längst mehrere Generationen nachgerückt, aber bei manchen tut der Abschied dann doch besonders weh. Vicky Leandros steht nun das siebte Jahrzehnt auf der Bühne. 2025 hat sie exakt 60 volle Jahre im Showgeschäft hinter sich gebracht. Doch ob dieses Bühnenjubiläum noch gefeiert wird, steht aktuell in den Sternen.
Die in Griechenland geborene Künstlerin, die im Alter von 5 Jahren mit ihrer Familie nach Hamburg kam, ist 71 geworden. In den 60ern ist es noch recht gewöhnlich, dass schon junge Teenager*innen erste Songs auf der Bühne performen. Heute sind 13-jährige im Business wohl nur noch Einzelfälle. Doch schon das Debüt “Messer, Gabel, Schere, Licht” wird ein Top-20-Hit. Über 40 Jahre später, nämlich 2009, geht das letzte Mal eine Single von ihr in die Top 100. Insgesamt schaffen es 36 Songs und 14 Alben. Damit zählt sie bis heute zu den erfolgreichsten deutschen Sängerinnen aller Zeiten. Außerdem ist sie eine echte Eurovision Song Contest-Legende, kurioserweise allerdings nicht für Deutschland. Eine Zeit lang lebte sie in Paris, spricht daher Französisch und wurde für das damals sehr erfolgreiche ESC-Land Luxemburg als Kandidatin ausgewählt. Mit “L’amour est bleu” wird sie 1967 Vierte, da ist sie 15. Fünf Jahre später schafft sie für dasselbe Land mit “Après toi” den dritten Sieg. Einem jüngeren Publikum fiel sie wohl zuletzt 2020 auf, nämlich als “Katze” bei der dritten Staffel von “The Masked Singer”.
Das Alter kann ihr also eigentlich gar nicht so viel anhaben. Dennoch fiel ihr im vergangenen Herbst auf, dass es an der Zeit ist, nun die Bühne zu verlassen. Weil es sich richtig anfühlt, erzählt sie beim Konzert im Dortmunder Konzerthaus am 10.10., einem Dienstagabend. Ob es am Ende wirklich richtig ist, kann sie wohl erst einschätzen, wenn das letzte Konzert der Tour vorbei sein wird. Schon zum Ende des Dortmund-Gigs macht sie aber deutlich, dass ihr das Publikum diese Entscheidung so gar nicht leicht macht. Der Beifall ist sowohl zu Beginn, mittendrin, aber auch gen Ende oft frenetisch laut. Jeder Platz auf allen vier Etagen – Parkett sowie drei Ränge – ist belegt. Diesen Oktober gibt es elf Auftritte, kommendes Frühjahr 15 weitere. Einige Zusatzshows der Ich liebe das Leben – Meine Abschiedstour für den Herbst 2024 wurden bereits bestätigt. Für viele Termine gibt es schon jetzt nur noch Eintrittskarten aus zweiter Hand. Wie gesagt: Dass Vicky Leandros ihr 60. Bühnenjubiläum feiern wird, ist nicht gesetzt, aber auch nicht so unwahrscheinlich.
Und das sei ihr auch von Herzen gegönnt. Einige Besucher*innen könnten womöglich seit der ersten Stunde mit dabei sein. Nur wenige sind wohl jünger als 40. Viele sind hier Fans des deutschen Schlagers, andere schätzen anspruchsvollen Chanson, manche sind zweifelsohne aus der Eurovision-Bubble. Dass man hier durchaus auf Musik hoher Qualität setzen kann, beweist bereits das Ensemble, das einige Minuten vor Vicky die Bühne betritt. Neun Personen, einschließlich klassischer Bandbesetzung, einiger Streicher, einem großen Piano und einer Backgroundsängerin. Außergewöhnlich ist das Intro, in dem direkt in mehreren Minuten viele ihrer großen Hits instrumental vorgetragen werden. Anschließend betritt die unverkennbare Kultpersönlichkeit die Stage und ganz Dortmund steht auf. Gejubelt wird wortwörtlich, bevor der erste gesungene Ton erklingt.
Zu hören gibt es eine üppige Zeitreise durch mehr als ein halbes Jahrhundert Musik, die zunächst 65 Minuten, nach der Pause aber weitere 75 Minuten andauert. Ja, Vicky Leandros singt auch als Ü70 140 Minuten lang, liebe Stars der neuen Ära, die gern auch mal nach einer guten Stunde “Goodbye” rufen. In diesen fast zweieinhalb Stunden wird sich nicht mit Mittelmaß zufriedengegeben. Immer wieder gibt die Künstlerin kurze Anweisungen an die Technik, weil sie sich zu wenig hört oder die Abmischung nicht ganz fein ist. Aber alte Schule ist bekanntlich nicht immer das Schlechteste. Selbstredend wird das Publikum höflich mit “Meine Damen und Herren, liebe Freunde” begrüßt und gesiezt. Ansonsten entscheidet sich die Stimme, die man immer noch unter Hunderten erkennt, für Nähe. Sie geht mehrfach durch die Reihen, plaudert aus dem Nähkästchen, macht in ihren Anmoderationen nicht nur eine Zeit- sondern auch eine Weltreise, sodass es Geschichten über Japan, Amerika und Frankreich gibt. Völlig konsequent folgen daraufhin auch Songs in Landessprache. Japanisch, Englisch, Französisch, Griechisch, Deutsch – warum auch nicht? Wer kann, der kann.
Die Atmosphäre ist heimelig. Es wird viel geklatscht und gesungen. Besonders dem älteren Publikum ist anzusehen, dass hier viele Erinnerungen mitschwingen, was beim Beobachten mehrfach rührt. Auch wenn der Großteil der Setlist eher ruhige Töne anschlägt, gibt es zwischendrin immer mal Überraschungen wie bei einem griechischen Sirtaki, einem argentinischen Tango oder einer völlig unerwarteten Karaoke-Session zu “Blau wie das Meer”, der deutschen Version ihres ESC-Evergreens “L’amour est bleu”. Eine total witzige Idee, die es so wohl selten zu sehen gibt: Ein Crew-Mitglied hält Plakate mit dem Text hoch, Vicky flaniert währenddessen durch die Reihen und singt mit Freiwilligen ein paar Zeilen. Zwei Männer bestehen aber darauf, das französische Original anzustimmen, sind sie nämlich französische Muttersprachler. Zum großen Finale mit “Ich liebe das Leben” entsteht eine wahre Nostalgieparty, bei der der Chor bis an die Decke des Konzerthauses schallt. Das funktioniert auch zur letzten Zugabe “Theo, wir fahr’n nach Lodz” extrem gut, ihrem bis dato erfolgreichsten Charthit in Deutschland.
Gesanglich ist sie natürlich nicht mehr ganz so klar wie damals, aber für ihr Alter singt Vicky Leandors wirklich richtig gut. Bei einigen Songs gibt es absolute Konzentration, sodass sowohl hohe Töne mit Bruststimme als auch lange Töne mit viel Luft dargeboten werden. Bei anderen Songs wird es vielleicht manchmal etwas kratzig und kehlig, was aber kaum ins Gewicht fällt. Wer sich mit 71 noch so schick in Schale wirft, sich nach Songs mit kleinen Hopsern und jubelnden in die Luft geworfenen Armen freut und bedankt, macht alles richtig. Grande Dame bleibt eben Grande Dame.
Mit einer Selbstverständlichkeit und Selbstbestimmtheit berichtet sie auch von ihrem Song “Valentin”, einer homoerotischen Geschichte unter Männern, die zwar die Plattenfirmen verärgerte, sie aber so reizend und schön fand, dass sie sie damals aufnahm. Rund 40 Jahre vor einem “Vincent” von Sarah Connor. Den Song gibt es genauso wie eines ihrer persönlichen Lieblingslieder, “Hallelujah” von Leonard Cohen, erst auf Englisch, dann auf Deutsch. Zwischenzeitlich trinkt sie Kaffee, der frisch wie beim Sonntagsklatsch aus einer großen Kanne eingeschüttet wird, mit der sie sich aber etwas herumschlagen muss, weil sie so fest zugedreht ist. Ein paar witzige, spontane Momente entstehen also auch ganz von allein.
Groß. Im Dortmunder Konzerthaus schwingt an jenem Abend ein Stück deutsche Musikgeschichte mit. Man spürt im Saal, dass da vorne jemand steht, der durch die bloße Präsenz ganz viel Raum einnimmt und das Musikbusiness in allen Facetten und Epochen inhaliert hat. Sollte sie wirklich im nächsten Herbst gehen, geht sie mit Stil, Glamour und erhobenem Hauptes. Sollte Vicky Leandros es sich doch nochmal anders überlegen und eine Ehrenrunde drehen, wird sie aber wieder mit Standing Ovations begrüßt und verabschiedet. Dankbarkeit und Respekt auf beiden Seiten.
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Bild von Christopher
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