Auch wenn “Babyblue” , das zehnte Album von Annett Louisan, dieses Frühjahr ein wenig hinter den Verkaufserwartungen blieb, war es inhaltlich wirklich ganz groß. Die unverkennbare Künstlerin hat weiterhin nach fast 20 Jahren genug Esprit und Ideen, um mit ihrem Charme sämtliche Fan-Ohren um den Finger zu wickeln. Besonders schön ist die Tatsache, dass man anhand der Texte en détail ihren Lebenswandel mitverfolgen kann und immer genau sieht, was sie gerade beschäftigt. Sie wird älter, man selbst wird älter, Themen werden älter. Ein gemeinsames Reifen.
Doch bekanntlich sind Musikverkäufe heute nicht mehr ganz so wichtig. Sowieso punktete Annett schon immer mit ihren Live-Fähigkeiten. Davon durften wir uns auch schon zweimal überzeugen – einmal noch recht knapp vor der Pandemie in Köln und einmal gen Ende in Düsseldorf. Beide Male gab es von uns einen wahren Lobschauer. Doch auch für diejenigen, die lieber gemütlich daheim oder unterwegs, ganz allein oder zu zweit ihre Titel auf der Bühne präsentiert, aber durch Lautsprecher zuhause übertragen genießen möchten, gibt es jetzt mit Live aus der Elbphilharmonie Hamburg neues Material.
Dass Annett Louisan live einfach wahnsinnig gut funktioniert, ist kein Geheimnis. Zu zwei früheren Alben gibt es Aufzeichnungen in Bild und Ton, zu “Zu viel Information” ein reines Livealbum. Das ist allerdings auch schon wieder fast auf den Tag genau neun Jahre her. Jap, das geht verdammt schnell. Seitdem hat die 46-jährige zwei Studio- plus zwei Cover-LPs herausgebracht. Genug Stuff, um endlich wieder unverblümt und mit wenig Bearbeitung die Livestimme sowie eine ganze Schar fantastischer Instrumentalist*innen aufzunehmen. Als Wahl-Hamburgerin gibt es selbstredend nichts Schöneres als in einer der bekanntesten Locations des Landes aufzutreten – der Elbphilharmonie. Ehre wem Ehre gebührt, nicht wahr.
Das 23 Tracks umfassende neue Live aus der Elbphilharmonie Hamburg besitzt eine Besonderheit: Die Lieder sind so kompakt geschnitten, dass es eher selten Applaus zu hören gibt, ebenso selten sind Ansprachen. Das mag man auf der einen Seite ziemlich schade finden, da dadurch natürlich ein Teil der Atmosphäre verloren geht, andererseits bieten die 82 Minuten so äußerst attraktive Alternativen zu den Studioversionen, bei denen jede*r am Ende ganz persönlich für sich entscheiden kann, welches Arrangement ihm*ihr eher zusagt. Ist von dem einen Stück der letzte Ton erklungen, hört man nur wenige Sekunden später bereits den ersten des Nachfolgers. Spart ja auch gut was an Zeit beim Hören, und Zeit haben wir doch alle sowieso nicht. Ebenso untypisch sind die Längen der Songs, die überwiegend sehr nah an den Längen der Albumversionen bleiben. Auch hier gibt es also keine ausufernd eingebauten Instrumentalsoli, minutenlange Mitsing-Einlagen oder Ähnliches. Nur so ist auch überhaupt eine dermaßen große Auswahl in weniger als anderthalb Stunden möglich.
Die spannendste Frage ist natürlich, was auf der Setlist steht. Zunächst einmal das komplette “Babyblue”. Kein einziger Song ist hintenüber gefallen, alle zwölf dabei. Das sollte besonders große Fans freuen, die auch die früheren Livealben besitzen und hier somit das Neuste unverfälscht vom Mund ins Mikro zu hören bekommen. Zusätzlich gibt es aber dennoch eine ganze Menge an Klassikern on top sowie ein paar Überraschungen. Erwartbar, aber dennoch immer wieder ein Vergnügen sind “Das Spiel”, “Das Gefühl”, “Das alles wär nie passiert”, “Das große Erwachen” und “Drück die 1”, auf der anderen Seite stehen aber noch einige Titel aus dem Vorgängerwerk “Kleine große Liebe” , das Corona bedingt nur im kleinen Umfang live gespielt werden konnte. Wer die Shows verpasst hat, bekommt mit dem Titelsong, “Wir sind verwandt”, “Die schönsten Wege sind aus Holz”, “Klein” sowie “Two Shades of Torsten” fünf Angebote.
Absolut fabulös ist mal wieder der Einsatz von fast zwei Hand voll Musiker*innen an Streichern, Piano, Drums, Gitarren und Bass. Die Abmischung ist wirklich gelungen und holt einen direkt in die Location, in der der Sound so gut ist. Alles andere wäre auch wahrhaftig eine Enttäuschung gewesen, braucht es nun mal genau diesen klaren Klang, bei dem jedes Instrument stets vernehmbar erscheint. So entstehen an manchen Ecken doch überraschend neue Interpretationen, wie in dem coolen Reggae-Gewand von “Das alles wär nie passiert”, das leicht jazzige Lounge-Erlebnis in “Das Spiel” und ganz viel französisches Flair in “Das große Erwachen”.
Bei den Neuzugängen hält man sich meist an das Arrangement des Albums. Dafür werden wohl manche ganz besonders hellhörig, wenn Annett in “L’amour” oder “Die mittleren Jahre” die Tonleiter nach oben klettert und aus ihrer Comfort Zone verschwindet. Stark. Passiert selten, aber wenn, funktioniert es vorzüglich. Auf der Finalstrecke schaut in “Zuckerbrot & Peitsche” mit Tim Tautorat eine weitere Person am Mikro vorbei. Das ist der Produzent der LP. Zu “Wenn ich einmal sterben sollte” ist Tristan Brusch an der Gitarre zu Gast, an dessen Talent man in den letzten Jahren zurecht kaum vorbeikam. Mit ihm schrieb sie den Song zusammen – Tipp an dieser Stelle: Wer es noch nicht kennt, sollte unbedingt das Duett der Beiden “Kein Problem” von Tristans aktuellem Album anhören.
Die erzählende Chanteuse liefert, wie man es nicht anders erwarten durfte, auf hohem Niveau ab, hat auch nach fast zwei Dekaden keinerlei Abnutzungserscheinung und ist mit Live aus der Elbphilharmonie Hamburg endlich auch für Anti-Konzertgänger*innen wieder in authentischer Aufnahme zu hören. Ist das Annett-Fieber nun doch wieder entflammt, was wir sehr gut verstehen können: In zwei Wochen beginnt die Tour. Wie praktisch.
Und so hört sich das an:
Website / Facebook / Instagram / X
Die Coverrechte liegen bei ARIOLA/SONY MUSIC.
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.