Einige halten diesen gewissen “Lebende Legende”-Status inne. Sie haben eine unvergleichliche Aura, eine derartige Größe, dass ihr bloßer Name schon so viel Ehrfurcht auslöst. In Deutschland sind es wahrscheinlich genau vier Herren im Musikbusiness, die dieses Privileg genießen. Lindenberg, Grönemeyer, Maffay und Westernhagen. Man vergöttert sie alle und hat eben nur seinen ganz persönlichen Liebling. Qualitativ tut sich da aber nicht viel.
Marius-Müller Westernhagen, geboren im Dezember 1948 in Düsseldorf, ist also seit einigen Monaten 75 Jahre jung. Sein erstes Album erschient 1975, somit im kommenden Jahr vor einem halben Jahrhundert. Seitdem hat er über 12 Millionen Tonträger verkauft. All diese erschlagenden, riesigen und hochbeeindruckenden Zahlen feiert der Künstler mit der markanten Whiskey-Stimme nun dort, wo es sich am schönsten anfühlt, nämlich in den Arenen des Landes. Natürlich macht man in dem Alter, in dem der Großteil der Deutschen rund eine Dekade bereits die Rente genießt, nicht mehr einen Gig nach dem nächsten, sodass für Mai 2024 erst einmal acht Shows angesetzt sind. Doch der Run ist so, wie er eben immer ist – erschlagend. Nur eine logische Konsequenz, dass man im August und September um acht weitere Open-Air-Termine ergänzt.
NRW, Westernhagens ursprüngliche Heimat, hat gleich dreimal die Ehre. Indoor werden Dortmund und Köln bespielt, outdoor später noch Mönchengladbach. Die Ruhrmetropole Dortmund ist gar Tourauftakt, was somit nicht nur fürs Publikum, sondern auch für Band und Crew ein besonderer Abend ist, sind alle aufgeregter und unsicher, wie’s läuft. Für Fans zählt dabei aber in erster Linie natürlich, was auf der Setlist landet.
Bekanntlich ist man mit dem eigenwilligen Charakter, der aber stets klar Stellung bezieht und sich äußerst tolerant und pro Diversität und Zusammenhalt positioniert, gemeinsam alt geworden. So ist in der kultigen Arena der Innenraum bestuhlt. Ein wenig erschreckend ist dabei der Preis direkt vor der Bühne, der die 200-Euro-Marke knackt. Glücklicherweise gibt es aber ansonsten auch viele Tickets, die ab rund 70 Euro losgehen. Ohne Vorband verläuft der Einlass gut entspannt, freie Plätze gibt es nur, wenn man sich genau umsieht. Passend zur Prime-Time geht es um 20:15 Uhr los. Der Applaus ist frenetisch schon beim Heben des Vorhangs und bleibt es nahezu nahtlos bis zum Ende um 22:10 Uhr.
In den fast zwei Stunden zockt und singt Westernhagen 21 Songs, die sich zum sehr großen Teil auch auf der zum Geburtstag erschienenen neuen Best-of-Compilation befinden. Mit Sicherheit vermissen diejenigen, die schon seit Urzeiten am Start sind, den einen oder anderen Hit. “Willenlos” zum Beispiel. Ansonsten kann man aber eigentlich bei dem Konzert nahezu nichts beanstanden. Der Künstler kommt nicht allein, hat stattdessen gleich zehn wirklich hochkarätige internationale Instrumentalist*innen und Backgroundsänger*innen dabei, die ab der ersten Sekunde ihr volles Herzblut in die Show fließen lassen. Da gibt es genug Raum für virtuose Percussion-Breaks, Gitarren-Soli und fantastische Phrasierungen im Hintergrundgesang in den höchsten Lagen.
Doch auch Westernhagen selbst überzeugt mit einer irrsinnigen Ladung Energie. 75 ist der? Kaum zu glauben. Gesanglich gibt es vielleicht nicht mehr 100 Prozent der Inbrunst von damals, dafür aber immer noch eine tonale Treffsicherheit, den passenden Rotz und an anderen Stellen auch den berührenden Schmerz. Hätte man durchaus damit rechnen können, dass er eher ruhig am Mikrofon verweilt, gibt es aber auch ein ständiges Laufen über die Bühne, einige aussagestarke Bewegungen und den berüchtigten Bootyshaker. Für mehrere Songs schnappt er sich diverse Gitarren und spielt Begleitungen. Optisch präsentiert er sich in einem stilvollen cremefarbenen Anzug, unter dem sich ein gestreiftes Hemd mit Hosenträgern befindet. Alles beim Alten, alles so, wie man es braucht.
Nostalgie geht mit neuen Tönen einher. Hätte man auch easy nur das 80er- und 90er-Zeugs spielen können, sind mit “Alphatier”, “Ich will raus hier”, “Die Wahrheit” und “Zeitgeist” auch einige Titel der letzten zwei Studioalben dabei. Einen wirklich sehr inspirierenden, intimen Augenblick stellt das Duett “Luft um zu atmen” mit seiner Frau Lindiwe Suttle dar. Premiere feierte der Song bei der letzten “MTV Unplugged”-Tour – ganz wundervoll, dass er es auch auf diese Tour geschafft hat, ist er wirklich ein kleines Meisterwerk und eine sehr authentisch wirkende Spiegelung der Beziehung des Paares.
Übrigens war die eben erwähnte Unplugged-Tour die letzte von Westernhagen – und das war im Sommer 2018. So nutzt er sein Bühnencomeback, das fast sechs Jahre später stattfindet, um zu sagen, wie doll er seine Fans und solche Abende vermisst hat. Merkt man ihm und allen im Raum wirklich an. Das stärkste Merkmal ist neben den großen Hits die sehr intensive Stimmung. Spürbar haben viele in der Westfalenhalle einen echten Bezug zu den Liedern, besonders natürlich zu Lieblingen wie “Es geht mir gut”, “Johnny W.” und “Taximann”. Bei “Sexy” und “Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz” ist richtige Rock’n’Roll-Stimmung und das Alter im Perso auf keinen Fall das gefühlte. Untermalt wird jeder Titel mit einem eigenen zu den Lyrics passenden Visual, die stets andere Farben und Formen zeigen, in politischen Momenten auch Regenbogenfahnen, Greta Thunberg und mehr.
Noch größer wird es nur bei den “Ich musste älter werden, um es wirklich zu fühlen”-Nummern “Lass uns leben”, “Weil ich dich liebe” in einer traumhaften Country-Version und der finalen Zugabe “Freiheit”. Schon bei der 2018-Tour sagte Westernhagen, dass er “Freiheit” eigentlich gar nicht mehr spielen wolle, es aber schon vor sechs Jahren so viel Notwenigkeit hatte. Die ist nun in den sechs Jahren für alle spürbar noch viel, viel akuter geworden. Das macht einen Kloß im Hals, das macht wässrige Augen und stehende Haare auf den Armen. Einer der wohl bewegendsten Konzertmomente 2024. “Wir müssen dringend mehr miteinander reden”. Wie schön es wäre, wenn das klappt und etwas nützt.
Klassiker deutscher Popkultur, unverwechselbare Persönlichkeit. Marius Müller-Westernhagen enttäuscht auch mit 75 nicht, wirkt agil, frisch, überzeugend wie mitreißend. Einer der Acts, die man einfach mal gesehen haben muss. Einer der alten Schule, der aber den Anschluss und die Würde nicht verliert. Toll.
Und so hört sich das an:
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Hallo Christopher Filipeckiund,
ja ich kann all dem nur zustimmen… wir waren in Dortmund 2024 dabei, es war einfach nur g….. !!!
MfG
S.Schäfer
Liebe Sarina,
vielen Dank für dein Feedback. Das freut mich wirklich sehr, dass ihr auch so einen schönen Abend hattet.
Davon kann man bestimmt noch lange zehren 🙂
VLG Christopher