Man ist sich erst unsicher, ob er das nun wirklich ist oder nur jemand von der Crew. Völlig unscheinbar betritt Yann Tiersen um 20:05 die Bühne. In der Tonhalle in Düsseldorf ist es bis auf den letzten Platz voll. Ohne Support geht’s direkt zum Hauptact über, der sich selbst allerdings wenig als Hauptact inszeniert. Dunkles Poloshirt, irgendeine Stoffhose. Styling sieht anders aus. Stattdessen wird sich direkt ans Klavier gesetzt – ein Instrument aus knapp einem Dutzend, die auf der Bühne stehen.
Und ab dem Moment ist Magie. 110 Minuten lang geschieht in der Tonhalle etwas Wunderbares. Die Harmonie aus womöglich der optisch besten Location NRWs mit einem makellosen Sound, stilvollen beweglichen Landschaftsaufnahmen auf Leinwand und ganz besonderen Tönen hat von Anfang bis Ende eine unglaublich intensive Wirkung. Dabei fängt es vergleichsweise ruhig an.
Die ersten 15 Minuten erledigt der fast 50-jährige, der auf der Insel Ouessant in der Bretagne mit weniger als 900 anderen Bewohnern lebt, im Alleingang. Zunächst nur Klavier und er. Dann Melodica. Sanft, entspannend, in sich gekehrt, ruhig. Doch wer dachte, dass das nun bis ans Ende des Konzerts so bleiben wird, sollte sich auf was gefasst machen. Tiersen stellt seinen Tourbegleiter vor: ein Tonbandgerät! Diese ist eine der wenigen Ansprachen. Ansonsten steht bei dem Konzert die Musik im Vordergrund. Doch hier darf auf parodierende Weise dem Franzosen gelauscht werden, der mit schwer zu verstehendem Akzent fast schon schüchtern von seinem Weggefährten berichtet. Anschließend ist er nicht mehr der einzige Musiker auf der Bühne und der Prolog ist beendet.
Drei weitere tun es ihm nun gleich. Zwei Männer, eine Frau. Zu viert werden Klanglandschaften gebildet. Man kann eigentlich nicht wirklich von Musik sprechen. Es handelt sich viel mehr um eine Gedankenreise. Um Tiefenentspannung. Tiersen wandert durch mehrere Stadien seines Schaffens, setzt einen Schwerpunkt auf sein neustes Album „All“, verharrt nicht in seinem typisch-bekannten „Die fabelhafte Welt der Amélie“-Universum, sondern kombiniert Klassik mit ethnischen Gesängen, Naturgeräuschen und elektronischen Breaks. Dazu Stroboskoplicht.
Einzelne Stücke hervorzuheben ist quasi unmöglich, da mehrere miteinander verbunden werden und die Übergänge teils fließend funktionieren. Manchmal gibt es eine Viertelstunde lang keine Ruhe. Ob man sich nun in den lauten, krachenden, basslastigen und erschütternden Momenten wohler fühlt oder in den verträumten und anrührenden, in denen maximal Glocken für Aufregung sorgen. Beide Arten werden teilweise durch bis zu vier Stimmen mit Gesang begleitet. Und die Tonhalle in warme Farben geleuchtet.
Jeder weiß zu jeder Sekunde ganz genau, wann er was zu tun hat. Das Timing ist wirklich sensationell. Obwohl jeder grade an seinem Instrument vertieft ist, hören alle gleichzeitig auf dem exakt abgesprochenen Moment synchron auf. In manchen Stücken passiert so viel, dass man sich schwer entscheiden kann, was man als Zuschauer am besten tut – die Augen schließen, um den Sound intensiver einzusaugen oder die Musiker dabei zu beobachten, wie sie alle paar Takte die Instrumente wechseln. Tiersen spielt auch mal Klavier und Akkordeon gleichzeitig. Greift er zur Geige, gibt es auch auf technischer Ebene einige wirklich sehr beeindruckende Momente. Er legt ein Tempo vor und erzeugt ein ohrenbetäubendes Gewitter, dass ihm sogar eine Bogensaite reißt.
Zum letzten Drittel hin gibt es, fast schon unspektakulär als kleiner Einschub mittendrin, Tiersen allein am Cembalo und sein bekanntestes Werk „Comtine d’un autre été – L’après midi“, das womöglich das populärste Klavierstück seit dem Millennium ist. Natürlich gehört es für das Publikum zu den absoluten Höhepunkten, sticht aber gar nicht so hervor wie erwartet. Es ist eben nur ein Teil vom großen Ganzen.
Gleich zwei Zugabenblöcke schließen den Abend ab. Beide Male nach dem Abtreten der Künstler gibt es Standing Ovations und Jubelstürme. Man muss sich drauf einlassen, dass hier mit dem Unerwarteten zu rechnen ist und Musik eine andere Definition bekommt. Es geht um Atmosphäre, nicht um einzelne Tracks. Hat man dazu aber Lust, erlebt man ein Konzertereignis der Extraklasse. Das liegt aber ganz klar an der Symbiose aus Künstlern, Tontechnik, Licht, und Klangerzeugnis. Jetzt schon ein Anwärter auf die beste Show des Jahres.
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