Alligatoah – Schlaftabletten, Rotwein V [Doppel-Review]

Alligatoah STRWV

Zum neuen Alligatoah-Album „Schlaftabletten, Rotwein V“ gibt es von uns eine Doppelrezension! Pünktlich zum Releasetag könnt ihr nachfolgend zunächst Christophers Rezension lesen, gefolgt von Annas Meinung. Viel Spaß!

Back to Basics! Mit „Schlaftabletten, Rotwein V“ ergänzt Alligatoah seine Mixtape-Reihe um einen weiteren Ableger und kehrt den überaus erfolgreichen, vorangegangenen Studioalben „Triebwerke“ und „Musik ist keine Lösung“ den Rücken zu. Trotz Verkaufszahlen im sechsstelligen Bereich und echt schicken Auszeichnungen, wird nun an die Tracksammlung angeknüpft, die 2006 begann und 2011 mit Teil IV die letzte Veröffentlichung fand, bestehend aus liegen gebliebenen Songs.

Lukas Strobel, wie Alligatoah bürgerlich heißt, hat mit 17 angefangen seine Liedchen zu droppen und in den letzten zwölf Jahren einiges an Material geliefert. Neben seinem eigenen Zeug macht er seit 2012 mit der Formation Trailerpark Musik und ist somit mehr als gut ausgelastet. Als selbsternannter Schauspiel-Rapper geht häufig das eigentliche Talent des fast 29-jährigen etwas unter: neben seinen Rapleistungen, die er als Künstlerfigur Kaliba 69 präsentiert, produziert und schreibt er unter seinem Alter Ego DJ Deagle sämtliche Tracks und spielt ganz nebenbei fast alle Instrumente selbst ein.

Wer mit den beiden Vorgängern etwas anfangen konnte, sollte auch mit den 16 neuen Titeln von „Schlaftabletten, Rotwein V“ zufrieden sein. Die stärkste Waffe bleibt: deutsche Texte, die an Beobachtungsgabe, Zynismus und Intelligenz ihresgleichen suchen. Schauspielrap hin oder her – bei Alligatoah handelt es sich immer (!) um so gute Lyrik, dass Kraftausdrücke nicht zum Selbstzweck gebraucht werden, sondern Wortspiele verfeinern. Statt Zweideutigkeit ist selbst Dreideutigkeit möglich. Vieles ist erst nach mehreren Durchläufen erkennbar, jedoch auf Anhieb so zugänglich, dass man angetrieben wird, alle Details entdecken zu wollen. Gepaart wird das Ganze stets mit bretternden Beats, die ab und an ordentlich gegen die Wand drücken, fast schon rockig klingen und bösen Melodielinien, die im Ohr bleiben.

Nun das Negative: Alligatoah scheint sich neben dem Albumtitel auch beim Konzept an seinen alten Werken zu orientieren. Textlich ist der Longplayer auf dem gleichen Niveau wie seine beliebten Vorgänger – musikalisch kann es dafür leider nur teilweise mithalten. Gerade Fans von Klassikern wie „Willst du“, „Amnesie“, „Denk an die Kinder“ oder „Du bist schön“ müssen sich etwas gedulden. Bis zur Mitte der Platte plätschern die Mitsingmelodien ein wenig. Tracks wie „I Need A Face“ oder „Ein Problem mit Alkohol“ sind nett – bei Alligatoah erwartet man aber mehr als nett. Da hilft auch der Kinderchor und eine Goethe-Hommage in „Alli-Alligatoah“ nicht, um den Track über gutes Mittelmaß zu heben. „Hass“ dreht, wie der Titel es andeutet, ordentlich an der Aggroschraube und haut mit verzerrten E-Gitarren richtig auf die Kacke, klingt nur etwas too much.

Doch dann ist zum Glück Schluss mit Schwimmerei – ab Song 6 liefert das Multitalent pausenlos ab und zaubert auf der einen Seite wieder automatische Lacher ins Gesicht, die sich daraufhin mit einem Ertappt- und Fremdschamgefühl abwechseln. Ganz egal, ob das hochmoderne „Meinungsfrei“, das sich mit dem allseits gehassten „Ich spiele die Schweiz und halte mich da raus“-Statement spielt, der Polygamie und Polyamorie-Trend in „Freie Liebe“ oder in dem Epos-artigen „Wie zuhause“ der Drang, seine wahre Bestimmung auf großer Reise im Ausland zu finden – Alligatoah rappt schnell, Alligatoah rappt gut und Alligatoah hat die passende Wortwahl. Noch nicht genug Themen? In „Meine Hoe“ wird gezeigt, dass selbst Männer für Feminismus kämpfen können, „Terrorangst“ und „Füttern verboten“ beschreiben die nie abreißende Angst vor einwandernden Ausländern und mit „Wo kann man das kaufen?“ wird mit omnipräsenten Modetrends, Werbeanzeigen und Konsum abgerechnet. Ganz schön politisch. Verpackt in diverse Rhythmen, die mal mit Panflöte, mal mit spanischer Gitarre oder Samples aus dem eigenen Haus auskommen. Sich für einen Lieblingstrack zu entscheiden, fällt da äußerst schwer.

2018 pulvert der feine Herr Gatoah gewohnt gute Kunst, die vorher schon ihresgleichen suchte und auch dieses Mal wieder neue Kost bietet, die sämtlichen Deutschrap in die Tasche packt. Da verzeihen wir ihm doch gerne die eine oder andere Hitqualität, die etwas einbüßen musste und gestehen ihm ein erneut richtig gutes Album ein.

Und Annas Meinung dazu:

Die „Schlaftabletten, Rotwein“-Runde des werten Herrn Gatoah geht in die fünfte Runde. Waren bislang die vergangenen Veröffentlichungen der „StRw“-Reihe als Mixtape herausgebracht worden, widmet Alligatoah der fünften Ausgabe seiner Reihe gleich ein ganzes Album. (Eine jede andere Bezeichnung wäre der Platte vermutlich nicht gerecht geworden.) Auf insgesamt 16 Tracks schlüpft der bald 29-jährige Lukas Strobel – wie der Künstler hinter Alligatoah mit eigentlichem Namen heißt – in verschiedenste Rollen seines Schauspiel-Rapper-Künsterdaseins, erweitert diese Rollen und arbeitet sich in gewohnter, aber vielleicht deutlichster Weise an aktuellen Sterotypen, Vorurteilen und politischen Geschehnissen ab. So heißt es im entsprechenden Pressetext der Platte:

„Außerdem tauchen neue GesellInnen auf und ergänzen das Bild. Die Szenerie baut sich auf, bis ein Herr mit einer Grubenlampe ruft: „Was ist, wenn wir gar nicht real sind, sondern nur die verschiedenen Persönlichkeiten eines Wahnsinnigen?“ Alligatoah zeigt sein Weltwackelbild. Wenn draußen alles verrückt, haben die Gestalten des Rap-Barden ihre festen Plätze. Sei es der Feminist, der seiner Liebe einen Rap-Track widmet, der Reise Hippe, der sich in der Welt sucht, ein Detektiv, der durch den Nebel der vergangenen Nacht watet oder der meinungsfreie Demonstrant der auch Gehör finden will.“

Ob pathetisch gesungen, in Doubletime-gerappt oder mit verschiedenen Stimmfarben untermalt: Alligatoah greift bei seinen Songs – mit wenigen Ausnahmen – nicht nur stets selbst zum Instrument, sondern bedient sich auch an sämtlichen Genres der Musikgeschichte wie Rock, Pop, Metal Hip-Hop, Jazz oder Folklore. Der Track „Alli-Alligatoah“, der bereits im Vorfeld der Veröffentlichung als Single und mit dem wohl innovativsten und besten Musikvideo aller Zeiten erschien, eröffnet das Album mit verträumter Erlkönig-Anspielung auf entspannte Gitarren-Chords. („StRw ist kein trashiges Tape / Es ist Retro in Spe“). Der zweite Song „Ein Problem im Alkohol“ thematisiert – wenn textlich vielleicht auch ein wenig Mau – die Suchtprobleme eines Trinkers („Psychologie ist keine Hexenkunst / Einsicht ist besser als Besserung“), ehe auf „Hass“ – wie der Name bereits vermuten lässt – zu derben Nu Metal-Klängen ein „leicht Aggressiver“, harter Sound angeschlagen wird. Wer ohnehin nicht schon einen Puls von 180 haben sollte, kann bei diesem Lied mit etwas Head-Banging gepflegt ein paar Nadeln in eine Voodoo-Puppe rammen                                                                                                                 .

Auf „I need a Face“ besingt Alligatoah die zahlreichen Facetten und Gesichter hinter seiner theatralen Kunstfigur und erläutert dabei – vor allem seinen neuen Zuhörern –, was hinter all dem steckt: „Für die, die jetzt erst zugeschaltet haben, ich hab mehr Gesichter als Cartoon-Gestalten. / Ein Gesicht für die Oxford-Studie. / Eins für die Ostblock-Hure. / Eins für deine gutgemeinten Kochversuche. / Eins für: „Ich hab nicht gefurzt“. / Aus dem Ritterburg Knigge-Kurs. / Ein Gesicht für Zwischendurch. / Ein Gesicht, das meinen Kindern ohne rot dabei zu werden sagt, ich bin mir sicher drogenfrei zu sterben“ #facepalm

Auch eine auf Alligatoahs-Werken immer wieder anzutreffende Form eines musilkalischen Dreiteilers darf auf „StRwV“ nicht fehlen: „Die grüne Regenrinne“ (Track 5, 10 und 15) heißt diesmal besagte Trilogie und wird mit verschiedenen Sprechpassagen in Kapitelform eingeläutet, die von niemand geringerem als the-one-and-only Martin Semmelrogge eingesprochen wurden. Die Tracks zeichnen sich insbesondere durch die fehlende Hook aus und skizzieren – quasi ohne lyrische Pause und fortwährenden Sprechgesang – die Geschehnisse einer an den Film „Hangover“-erinnernde, gedächtnisschwachen Nacht.

Auch ein Gast-Part ist auf „StRwV“ vorhanden, der auf dem Track „Beinebrechen“ von dem grandiosen Felix Brummer – Frontmann der Band Kraftklub – gesungen wird. Inhaltlich knüpft der Track dabei im Großen und Ganzen an Alligatoahs Hit „Fick ihn doch“ (Triebwerke) aus dem Jahr 2013 an: Stark überspanntes Stalking gepaart mit starken Eifersuchtsgedanken legen den Grundstein des sonst eher verhaltenen und ruhigen Songs.

Auf „Füttern verboten“ beweist der junge Schauspiel-Rapper sein Talent, Ohrwürmer zu politischen und gesellschaftskritisch-akzentuierten Texten („Ohoho, Sozialkritik, was? / Klasse, den Finger genau in die Wunde gelegt, weiter so. / Vielleicht noch ‘n Merkel-Ferkel-Witz?“) zu kreieren. Der Tier-Flüchtling-Vergleich, welcher die allseits gefürchteten Einwanderer mit zur Schau stehenden Tieren eines Zoos vergleicht, gelingt, ohne dabei plump und abgedroschen zu wirken.

Der Track „Meinungsfrei“ distanziert sich von Linksrock und Rechtsrock und entscheidet sich konsequenter Weise für Mittelrock. Entscheidungen zu treffen ist schließlich „unbequem“ und wer sagt nicht gerne: „Ich kann beide Seiten verstehen“? Entscheidungen treffen muss das lyrische-Ich auf „Freie Liebe“ schließlich auch nicht. Passagen wie „Du siehst aus, als hättest Du den Schneeball nicht gefangen. / Egal von wem die Wichse stammt, im Magen kommt eh alles zusammen“, zaubern einem dabei ein etwas angeekeltes Lächeln ins Gesicht, lassen die offenherzige Hook mit Ohrwurmcharakter „Ich mag es, wenn du aus dem Mund nach fremden Sperma riechst / Freie Liebe, Freie Liebe, Freie Liebe – oh Lord / Ich weiß jetzt, du bist jetzt glücklich, weil ich ständig Herpes krieg / Freie Liebe, Freie Liebe, Freie Liebe – Halleluja“ aber wieder fröhlich durch den Kopf säuseln.

„Terrorangst“ ist sowohl aus lyrischer wie musikalischer Sicht eine sehr gelungene Persiflage und Kritik an der Angst-und-Schrecken-stiftenden Mediengesellschaft da draußen. Der rockige Refrain „Hier liegen die Nerven blank / Ich mach‘ den Fernseher an und ich hab Terrorangst. / Hier liegen die Nerven blank / Sag‘ mir dein Herkunftsland und ich hab Terrorangst“ erzählt sein Übriges. Dagegen werden auf „So gut wie neu“ mit kurzer Rolf Zuckowski-Anspielung eher entspannte Töne angeschlagen.

„Meine Hoe“ versucht – konträr zum Titel – auf erstaunlich ernste Weise die Emanzipations-Flagge zu schwenken. „Meine Hoe reinigt die Wohnung mit Schwamm und Seife / Nicht, weil sie eine Frau, sondern an der Reihe ist. / Und sie brät uns die Fleischspieße an / Und nicht, weil sie es muss, sondern weil sie es kann“. Ein erfrischendes Skit, das jede natürliche, sich nicht zu verbiegen-brauchende Frau glorifiziert: „Und weil sie Kunst besser findet ohne Sittengesetz / Und ein beschissener Text noch lang nicht ihr gewissen ersetzt / hört sie verdammt gerne sexistischen Rap, tja.“

„Wo kann man das kaufen“ besingt zum Ende des Albums schließlich den wahnsinnigen, derzeit übergreifenden Werbewahn, der uns als Konsumenten an allen Ecken und Enden verfolgt, ehe das Album schließlich mit dem über sechsminütigen Track „Wie zuhause“ – der Bohemian R(h)apsody des deutschen Raps und des Massentourismus – endet. Der Song, der durch seine Vielschichtigkeit und musikalische Themenvielfalt überzeugt, besingt die endlose Reiselust, kritisiert aber zugleich den pauschalen Reiseurlauber auf allen Ebenen und überzeugt dabei mit seiner inhaltlichen wie musikalischen Steigerungsfähigkeit. Vor allem der überragende Doubletime-Part zum Ende des Songs bleibt hier im Gedächtnis: „Denn ich renne vor mir selber weg und denke, wenn ich schneller als Gedanken bin / Dann lass‘ ich meine Fehler hinter mir / Doch sogar mit der Fähigkeit zu fliegen bleib‘ ich ein Gefangener / Wie dieses Federvieh in einer Legebatterie / Begebe mich in die Verlegenheit mit meiner Wenigkeit / Allein zu sein, aber da war mir meine Wenigkeit zu viel / Ich hock‘ im Ferienparadies mit einer mittelschweren Egoallergie“.

Insgesamt wird auf „Schlaftabletten, Rotwein V“ eine solide Leistung des theatralen, begabten und vielfältigen Schauspiel-Rappers erkennbar. Eine Hand voll Ohrwürmer gepaart mit ein paar sozialkritischen Lines und musikalischem Gespür machen das Album hörenswert und erweitern die „StRw“-Reihe durchaus gelungen. Dennoch kann das Album an seine Vorgängerwerke „Triebwerke“ (2013) oder „Musik ist keine Lösung“ (2015) nicht in vollem Maße anknüpfen. Doch nichtsdestotrotz: Alligatoah teilt sich in seiner theatralen Musik so mit, wie kein anderer auf diesem Gebiet und erfrischt mit seiner Lyrik als auch mit seiner musikalischen Vielfältigkeit, ohne dabei nach Mainstream zu klingen. Und das ist in der heutigen Zeit schließlich schon mehr als Gold wert …

Tracklist

    1. Alli-Alligatoah
    2. Ein Problem im Alkohol
    3. Hass
    4. I Need a Face
    5. Die grüne Regenrinne
    6. Beine brechen
    7. Füttern verboten
    8. Meinungsfrei
    9. Freie Liebe
    10. Die grüne Regenrinne II
    11. Terrorangst
    12. So gut wie neu
    13. Meine Hoe
    14. Wo kann man das kaufen
    15. Die grüne Regenrinne III
    16. Wie zuhause

Das Album „Schlaftabletten, Rotwein V“ kannst du dir hier kaufen.*

Und so hört sich das Ganze an:

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https://www.youtube.com/watch?v=2PUC7Mi2oDc

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Alligatoah live 2019:

10.01. – Jahrhunderthalle, Frankfurt
11.01. – Saarlandhalle, Saarbrücken
12.01. – Gasometer, Wien
19.01. – Zenith, München
24.01. – Swiss Life Halle, Hannover
25.01. – ÖVB-Arena, Breme
26.01. – Lanxess Arena, Köln
27.01. – Arena, Leipzig
02.02. – Max-Schmeling-Halle, Berlin
03.02. – Sporthalle, Hamburg

Die Rechte fürs Cover liegen bei TRAILERPARK.

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