Als Conchita Wurst hat man es nicht ganz leicht. Jeder kennt dich. Jeder hat eine Meinung über dich. Und wie es nun mal mit Dingen ist, die jeden erreichen – mögen tut man die noch lange nicht! Conchita Wurst gehört zweifelsohne zu den größten „Hate it or love it“-Persönlichkeiten der letzten fünf Jahre und hat ordentlich polarisiert. Nicht nur ihr gesamtes Auftreten sorgte für Furore – auch mit ihrem Sieg im Jahr 2014 beim Eurovision Song Contest in Kopenhagen und mit öffentlichen Statements als LGBTQ-Menschenrechtlerin der aktuellen Generation machte sie stets auf sich aufmerksam. Da ist es fast schon etwas schade, dass gar nicht bemerkt wurde, wie gut in der Tat ihr damaliger Gewinnersong war und vor allen Dingen auch, wie gut er vorgetragen wurde. Dass anscheinend politische Äußerungen für eine Randgruppe (die stets wächst und immer mehr in der gegenwärtigen Gesellschaft angenommen, akzeptiert und gleichbehandelt wird) überhaupt noch von Nöten sind, ist eher traurig. Somit hat Frau Wurst also durchaus ihre Daseinsberechtigung. Einigen dürfte sie Mut gespendet haben. Die ständige „Ist es nun ein Er oder eine Sie“-Diskussion nervt dafür ebenso gehörig. Ein für alle Mal: Conchita Wurst ist eine Kunstfigur, kreiert von Tom Neuwirth. Ja, Tom Neuwirth ist ein Mann. Nein, er ist nicht transsexuell. Nein, er ist nicht operiert. Und dennoch ist die Figur Conchita Wurst klar und eindeutig weiblich und somit „Sie“ und nicht „Er“. Ich bin dann so frei und spreche in der Kritik von „ihr“, ok?
Aber kommen wir doch mal zur Musik, worüber viel zu wenig gesagt wird. „From Vienna With Love“ stellt bereits das zweite Album der fast 30-jährigen Wienerin dar und umfasst zwölf Titel und insgesamt eine gute dreiviertel Stunde Stücke, die zum Großteil bereits breite Bekanntheit genießen dürften. Wirklich schade ist, dass mit „Have I Ever Been In Love“ lediglich ein neuer Song vorzufinden ist, der für Conchita geschrieben wurde und den bereits eingeschlagenen James Bond-Sound, der schon ihrem großen Überhit „Rise Like A Phoenix“ zugeordnet wurde, nochmal deutlich herausarbeitet. Der Rest sind Coverversionen von Liedern, die für Conchita eine besondere Bedeutung haben und die sie einmal in ihrem eigenen Stil interpretieren wollte. Um den Stil besonders geschickt umzusetzen, wurde geklotzt statt gekleckert. Bloß ein bisschen covern kann ja jeder. Conchita lädt stattdessen das gesamte Wiener Symphonie Orchester ein und ließ sämtliche Hits von dem österreichisch-italienischen Dirigenten und Komponisten Guido Mancusi umarrangieren. Word.
Dass dieser Herr bereits einige Jahre mit den Symphonikern zusammenarbeitet, hört man wirklich in jeder einzelnen Pore des Albums. Der Sound ist überragend aufgenommen, klingt nicht nur gut produziert, sondern vor allen Dingen voll und ergreifend. Hier wird einfach mal richtig aufgefahren! Selten kann man Pop-Platten hören, die gleichzeitig so klassisch und anspruchsvoll im Ton waren. Zum Glück wurde das Augenmerk nicht nur auf die Sängerin gelegt, sodass auch immer wieder Zeit für ausgiebige Soli bleibt. Streicher, Harfen, Klavier, Bläser, Schlagwerk – wunderbar. Mit Kopfhörern ist das ein wahres Erlebnis, kann man nicht anders sagen. Im Instrumental hat das Album die Schulnote 1+ verdient. Ernsthaft.
Gesanglich hingegen benötigt man natürlich ein wenig Toleranz, um Gefallen daran zu finden. Ohne Frage handelt es sich bei Conchita Wurst um einen wirklich sehr, sehr guten Sänger (hier ist es wohl angebracht, die männliche Bezeichnung zu benutzen). Es ist immer wieder erstaunlich, dass Tom Neuwirth solche Höhen erreicht und dabei so klar klingt. Dennoch wurden zum Großteil Songs von Künstlerinnen ausgesucht. Dementsprechend ungewohnt kann es klingen, wenn Titel einer Sopranistin plötzlich von einem Countertenor präsentiert werden. Ist nicht jedermanns Sache, auch wenn das noch so gut gesungen und auf technischer Ebene sehr beeindruckend ist – aber halt sehr dramatisch und over the top, was bei den eigenen Songs auf dem ersten Album „Conchita“ durch die energetischen und mitreißenden Pop-Rock-Arrangements weniger ins Gewicht fiel. Hier ist der Gesang eben wesentlich dominanter.
Trotzdem beweist „From Vienna With Love“ in der Songauswahl ein gutes Händchen und klingt stets rund und stimmig. Barbra Streisand, Céline Dion, Sam Smith, Alanis Morissette, Shirley Bassey, Hildegard Knef; Titel aus „The Sound of Music“, „Love Story“, „Pocahontas“ und James Bond-Filmen. Ja, hier gibt es wirklich keine halben Sachen. Fans dürfen sich sogar auf eine neue Strophe bei „Rise Like A Phoenix“ freuen und so viel Epos, dass das Stück gleich um 90 Sekunden verlängert wurde – ein Highlight. Weitere erwähnenswerte Höreindrücke sind der 80er-Schmachtklassiker „Get Here“ (im Original von Oleta Adams), das sowohl gesanglich als auch instrumental starke „All By Myself“ (Céline Dion), das sehr eigen interpretierte, bombastische „Uninvited“ (Alanis Morissette) und der bereits erwähnte eigene Song „Have I Ever Been In Love“. Ob das fast komplett in Falsett gesungene „The Sound of Music“ wirklich sein musste, sei dahingestellt. Am Ende muss jeder selbst entscheiden, wo es ihm dann doch zu viel Pathos wird.
Conchita plant dauerhaft aus dem Showbusiness zu verschwinden. Sie hat alles erreicht, was sie erreichen wollte und noch viel mehr. Stattdessen soll Platz für Tom Neuwirth gemacht werden, der als seine eigene Person ohne pompöses Kostüm weitermachen möchte. Das sei ihm gegönnt. Aber wenn man geht, dann geht man natürlich mit einem Feuerwerk – und das ist auf „From Vienna With Love“ wirklich zu hören.
Das Album “From Vienna With Love” kannst du dir hier kaufen.*
Und so hört sich das an:
Website / Facebook / Instagram / Twitter
Die Rechte fürs Bild liegen bei SONY.
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.