Wir wollen uns alle nicht zurückerinnern, aber da müssen wir einmal kurz durch: Wisst ihr noch? Mitte März 2020? Erster Corona-Lockdown? Fühlt sich schon wieder an wie aus einem anderen Leben, ist aber dennoch eine gut abrufbare Erinnerung wahrscheinlich. Als das Kulturleben on hold gesetzt wurde, sämtliche Film- und Musikreleases nach hinten geschoben wurden und es auf einmal ganz leise war. Eine der wenigen, die sich nicht an die “Jetzt nicht, besser später”-Strategie hielt, war Dua Lipa. Die hat stattdessen mit einem Fingerschnipsen die Popwelt auf den Kopf gestellt, die Gunst der Stunde genutzt und sich so an die Spitze des stillgelegten Lebens gebeamt.
Wahrscheinlich hätte “Future Nostalgia” zu jedem anderen Zeitpunkt in den letzten Jahren herauskommen können – und es wäre immer der absolute Banger gewesen. Auf keinen Fall hat der Lockdown dazu geführt, dass es quasi ohne Konkurrenz lief und es dadurch leichter hatte. Es wurde aber einfach der Soundtrack zu der Zeit, als alles anders war als davor. “Future Nostalgia” ist nicht nur der beste Pop-Longplayer 2020, er ist immer noch einer der größten Anwärter auf den Pop-Longplayer des fucking Jahrzehnts. Warum? Weil man einfach nichts daran aussetzen kann. Weil es kommerziellen Pop wieder geil machte. Weil es im Radio, im Club, im Supermarkt, im Fitnessstudio laufen konnte und es nie nervte. Weil locker drei Viertel des gesamten Dings das Prädikat “Hervorragend” verdient und das übriggebliebene Viertel das Prädikat “Gelungen”.
Auch wenn die 28-jährige Londonerin mit albanischen Wurzeln schon vorher mit ihrem Debüt überdurchschnittlich ablieferte und sich mit Welthits wie “One Kiss” in jeden Gehörgang einzeckte, ist seit dem letzten Album schlichtweg alles anders. Seitdem ist sie, obwohl sie als Person oft gar nicht so viel Präsenz bekommt und selten in der Boulevardpresse auftaucht, ein Superstar. Eine Liga mit Gaga und den anderen Girls, die endlich kein Guilty Pleasure mehr sind, weil wir verdammt nochmal aufgehört haben, uns für geilen Pop zu schämen. Doch was macht man, wenn man für einige der krassesten Bops auf sämtlichen Playlists gesorgt hat? Wie hoch und utopisch kann eine Erwartungshaltung sein?
Dua Lipa wollte eigentlich schon längst den Nachfolger droppen. Doch irgendwie fühlte es sich nie richtig an. Kurz vor Beenden des Albums trifft sie auf Kevin Parker, dem Frontmann der australischen Psychedelic-Rockband Tame Impala und verliebt sich in den Sound. Mit ihm und drei anderen Produzent*innen, nämlich Danny L Harle (u.a. Co-Autor bei Olly Alexanders “Dizzy”, der UK-Beitrag für den Eurovision Song Contest 2024), Andrew Wyatt (u.a. Co-Autor bei Lady Gagas “Shallow”) und Ian Kirkpatrick, mit dem sie bereits “New Rules” und “Don’t Start Now” schrieb, soll es weggehen von dem hittigen Disco-Sound des 2020er Werks, hin zu Psychedelic-Brit-Pop-Elementen. Das ist mutig, das ist kreativ – aber ein gewaltiger Fehler.
Um es eigentlich in einem Satz zu sagen: Radical Optimism klingt im Titel nach genau dem Programm, was es schon auf “Future Nostalgia” gab – fast 40 Minuten pure Ekstase, ein Bombenhagel an atemberaubenden Hooks, keine Kompromisse, Lebensenergie in Form von Tönen. Doch leider ist davon nur eins geblieben, nämlich die Kompromisslosigkeit. Radical Optimism, mit seinen 36 Minuten und 11 Tracks in der Quantität nur eine Minute kürzer, ist aber in seinem Feeling eine Kürzung auf das Minimum. Eine Enttäuschung sondergleichen, ein Album, das der Erwartungshaltung nicht mal in Teilen standhält.
Natürlich ist alles immer ein Stück weit Geschmacksache und es wird Menschen geben, die Radical Optimism gut finden werden. Aber “Future Nostalgia” fand man eben nicht einfach nur gut, es wirkte wie ein wirklich einschneidendes Pop-Werk der Gegenwart. Eine Platte, auf die sich alle einigen konnten, eine Platte, die nachhallt. Das wird der neuste Output der wahnsinnig coolen, stylischen Dua einfach nicht schaffen, weil das Hervorstechende, dass Sounds in den Körper strömen und nicht mehr abfließen lässt, gänzlich fehlt. Bis auf Miniausnahmen ist die gesamte LP eine Ansammlung an Songs, bei denen man nicht aufhorcht, die stattdessen in der Spotify-Playlist halbgar durchflutschen.
Dabei war die Vorabsingle “Houdini” doch so gut. Ein spannender Kompromiss zwischen Michael Jacksons “Off the Wall” aus den 70s und dem typischen Dua-Sound. Das war auf Anhieb ungewohnt, dann aber sehr schnell unglaublich cool, lasziv und genau das Angebot, was es brauchte, um sich auf schlauem, catchy Wege poppig betreut zu fühlen. Vielleicht reichen ein paar Stunden und einige Durchläufe nun auch nicht, um Radical Optimism gerecht zu werden. Vielleicht zündet nichts auf Anhieb, aber alles beim zehnten Mal – doch ist das der richtige Ansatz für ein Pop-Album 2024? Für eine Zeit, in der es um einzelne Singles geht, nicht um ein stimmiges Konzept? Eine Zeit, in der eine Minute schon ungern für etwas investiert wird, was nicht instantly abholt?
Das Ganze ist schrecklich unbefriedigend, hat was von – um es mal ganz drastisch zu formulieren – Musik, die wirkt wie ein Stock-Foto. Das checkt man schon, aber es ist austauschbar, ein Symbol für etwas Geliebtes und Bekanntes. Als ob der eigentliche Restaurantbesuch nur in der Fantasie bleibt und man stattdessen irgendeinen Burger von irgendwoher sieht. Dua sagt es selbst am besten. Das Opening nennt sich “End of an Era” – ist das das Ende von richtig, richtig starken Kompositionen?
In der Produktion macht man selbstredend nicht viel falsch, aber auch nichts on point. Selbst hier fehlt es oft an Fülle, an Power, die dich beim Zuhören gegen die Wand presst. Ein Paradebeispiel dafür ist “Training Season”, das so wenig catcht, wie es ein Dua–Lipa-Track wirklich noch nie getan hat. Ach, sagen wir doch, wie es ist: Langweilig. Ein Todesurteil, wenn man denkt, hier gilt “What you see, is what you get” und das einfach nicht passiert. “These Walls” hat im Kern eine schöne, sommerliche Hook und Lyrics, die an das Band der Liebe glauben, obwohl alle ums Paar herum sagen, dass das nix wird. Süß. Aber auch hier wartet man immer, dass es endlich mal knallt. Und man wartet. Und wartet.
“Whatcha Doing” erinnert in den ersten Sekunden an “Pretty Please”, was erstmal freut. Glücklicherweise traut sich auch der Chorus etwas gefälliger zu sein, denn hier fällt auf, dass die Sängerin ihre Disco-Vibes nicht ganz an Covid verloren hat. Schöne, weit nach vorne gefahrene Gitarren motzen die drei Minuten angenehm auf. Es geht noch. Das große Highlight folgt mit “Falling Forever”, wenn sich auch gesanglich außerhalb der Comfortzone bewegt wird und Dua wohl so hoch und kräftig singt wie noch nie zuvor. Das wollen wir. Sehnsucht, Campness, Drama, Mitsingmomente.
Zack, auserzählt. Viel mehr erwähnenswerte Augenblicke gibt es nicht. Der Rest ist so gewöhnlich, so seicht, so ok. Stuff, den man nicht hasst und nicht liebt. Der keine starken Gefühle auslöst, was schade wie schlecht ist. Wurde hier einfach zwei-, dreihundert Mal zu oft nachgedacht? Wurde sich hier zu stark damit beschäftigt, dass es nicht funktionieren wird, “Future Nostalgia” zu toppen? Wurde hier probiert, deswegen etwas Neues zu entwickeln, aber einfach der wesentliche Kern vergessen? Möglich, denn genau so klingt es. Vielleicht war vor dem großen Umwerfen mit Parker alles besser. Mit Tränen in den Augen darf man sich eingestehen, dass Radical Optimism weder das beste noch das schlechteste Album des Jahres wird, aber womöglich das enttäuschendste, einfach, weil man so viel wollte und nur das Nötigste bekam.
Mehr Dua Lipa gibt es hier.
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