Langsam und ungelenk spaziert er über den Bürgersteig. Die Venloer Straße hinab. Rechts und links flankiert von Securities. Tritt vor einen Bus. Steigt auf eine kleine Erhöhung. Dann tönt laute Musik. Wirft einen zwanzig Jahre zurück. Zurück in eine Zeit, in der Klingeltöne noch per SMS geordert wurden. Zwanzig Minuten zuvor eine Pushbenachrichtung: “Der Crazy Frog ist zurück und Nostalgie garantiert. Um 17 Uhr am Open Deck Bus.” “Er”, das ist also ein Mensch in Crazy Frog-Kostümierung. Und “er” bewegt sich nun ungelenk zum Takt. Die Menge johlt. Auf dem Bus tanzen zwei in grellblau gekleidete Frauen. Es ist eigentlich das Material, aus dem sich Fieberträume nähren. Heute aber nur einer von vielen Programmpunkten des Kölner c/o pop-Festivals.
Fünf Tage lang im späten April treffen sich jedes Jahr in Köln Ehrenfeld Branchenvertreter*innen und Musikfans für Austausch über aktuelle Trends in Musikdeutschland, Entdeckungen junger Talente und eine gute Zeit. Für die gute Zeit sorgt neben der Musik vor allem “der Markt”, der sich die an den Wochenendtagen gesperrte Venloer Straße herunterschlängelt. Eine Vielzahl von Essenständen gibt es hier. Außerdem viel zu entdecken. Man kann beispielsweise Bagger fahren. Oder seine Festivalsünden beichten. Aperol trinken. Mit Kulturministerin Claudia Roth feiern. Oder eben gemeinsam mit dem Crazy Frog in die frühen 2000er reisen. Auch wenn sich die Sonne nur gelegentlich zeigen möchte: Irgendwie fühlt sich die Stimmung nach lauem Sommertag an.
In den umliegenden Clubs, Bars und in einer Sparkassen-Filiale (richtig gelesen) außerdem gibt es Musik. So viel, dass nur ein Bruchteil davon erfasst werden kann. Oft spielen viele potentielle Zukunftsstars gleichzeitig. Und wenn ein Club voll ist, muss eine Alternative herhalten. So manches ist eine Premiere. Lillipop, die merklich aufgeregt aber souverän selbstbewusste Hyperpopsongs über “sweete und giftige Phasen” und die “Hoeseason” singt, etwa. Oder auch die gerade einmal 16-jährige Ellice mit ihrem ersten Festivalauftritt. Stand letztere im vergangenen Jahr noch bei The Voice-Kids auf der Bühne, so spielt sie nun vor ein- bis zweihundert Menschen mit Keyboard-Begleitung Unveröffentlichtes, Cover und ihre ersten Mikrohits. Mit dabei ist Jeremias “Grüne Augen lügen nicht” (erstmalig in den Blind Auditions bei The Voice performt), aber auch ihr melancholischer Tiktok-Erfolg “Angst>Liebe”, der sich elegant aus Billie Eilishs “Bad Guy” heraus konstruiert. Es wird noch viel folgen von dieser blutjungen Pop-Künstlerin, das ist sicher, auch wenn der Auftritt noch Raum für Wachstum erahnen lässt.
Spielten Lillipop und Ellice im doch gemütlichen Yuca, so füllt Baby B3ns am Freitagabend immerhin ansatzweise die vielfach so große Live Music Hall. Auch sie betritt unbekanntes Terrain und performt erstmals länger als 15 Minuten (so bereits erlebbar gewesen vor Kim Petras oder Yung Hurn). Der einstündige “Freestyle” deshalb ist halb DJ-Set, halb Konzert. Die Palette ist bunt: Hier ein bekannter Deutschrapsong, dort ein Tiktok-Techno, anschließend eine unveröffentlichte Demo und dazwischen einer der wenigen bereits releasten Tracks zwischen Eurodance und Hyperpop. “Ich weiß, ich bin bisschen wild”, kommentiert Baby B3ns das chaotische Geschehen selbst und stürzt anschließend “Wasser” (Vodka) mit “Vitamin C” (Zitrone). Vor der Bühne scheint das egal. Es wird ausgelassen getanzt, geraucht, gekifft, gepeppt.
Unaufgeregter geht der Festivaldonnerstag vonstatten. Soft Loft schleichen sich im stabil vollen Helios 37 behutsam durch ihr fantastisches Set und laden mit ihrem schunkeligen Gitarren-Indie dazu ein Gedanken Pirouetten schlagen zu lassen. Saiten werden sachte gezupft, Dynamiken sorgfältig aufgestaucht, Körper bedacht von der einen zur anderen Seite gewiegt. All das zu den Songs des kürzlich erschienenen Debüts “The Party And The Mess”. Szenenwechsel: Artheater. Nun auf der Bühne: Meagre Martin aus den Vereinigten Staaten. Ansagen zwischen witzig und ernst, deutsch und englisch. Immerhin wohnt man mittlerweile in Berlin. Die Musik der drei Instrumentalist*innen etwas kantiger, der Gesang mit leichtem Country-Einschlag, der Rest irgendwie zwischen Slacker-Indie und Grunge. Aber doch ebenso ein geeigneter Canvas für Gedankenmalerei.
Entdeckungspotential gibt es auf dem c/o pop Festival genug. Jedes Jahr verirren sich jedoch auch eine Handvoll etablierterer Künstler*innen nach Ehrenfeld. Die quasi-Paten des diesjährigen Ausgabe sind die Leoniden, die in der Festivalwoche ihr viertes Album “Sophisticated Sad Songs” für den August ankündigen und gleich dreimal in der Stadt spielen. Einmal regulär den Sonntag in der Live Music Hall. Am Vortrag wiederum darf sich eine WG beziehungsweise deren Dachterrasse über Besuch der Kieler und mehrere Handvoll Fans freuen. Am späten Donnerstag außerdem feiert die Band mit einem 45-minütigen Konzert im Helios 37 in den Release ihrer Comeback-Single “Never Never” hinein. Lang ist die Gästeliste und lange mussten die wenigen glücklichen Fans, die es in den Laden schaffen, anstehen (mehrere hundert, so munkelt man, finden keinen Platz). Gewohnt fantastisch ist die Stimmung während die fünf Leoniden im Best-Off-Modus Percussions, Keyboards, Gitarren und so manch mitgebrachte Babyborn jonglieren. Hoch ist auch die Energie als dann endlich das frenetisch-hymnische Falsett-Fest “Never Never” gespielt wird. Happy Release!
Ähnlich viel Party bringt zwei Tage später Bibiza, der mit seiner wunderbar eingespielten und in Szene gesetzten Band eine große Crowd in die Live Music Hall zieht. Eine Stunde lang wickelt der Wiener Casanova mit seiner Rock’n Roll-Show Herzen in Bling-Bling-Papier. Es gibt Gitarren- und Basssoli, narrative Ansagen, generell viel Interaktion und ein unnötige Hinsetz-Spielchen. Hallen dieser Größe jedoch, das stellt Bibiza unter Beweis, ist er gewachsen. Doch wird er auch dort bleiben und an den Erfolg seines “Wiener Schickeria”-Albums anknüpfen können? Im Frühjahr 2025 wird Bibiza, das kündigt er an, mit neuem Album erneut an jener Stelle stehen. Viele Augen schauen also gespannt nach Österreich. Bis dahin werden neue Scharen an Newcomer*innen nachgerückt sein. Bereit sich der Hype-Prüfung zu unterziehen. Auch das c/o pop Festival wird wieder viele von ihnen buchen. Und eine Vielzahl an außerordentlich herrlichen Momenten hervorbringen. Darauf ist Verlass.
Mehr c/o pop gibt es hier.
Im nächsten Jahr findet die c/o pop vom 24. bis zum 28.04 statt. Also: Save the date! Mehr Informationen gibt es im Jahresverlauf dann hier.
Und so sah das letztes Jahr aus:
Fotorechte: Jonas Horn.
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