Zehn Jahre musikalisch voll durchzuziehen, können nicht so viele Bands von sich behaupten. Früher oder später knallt es so heftig, dass der Arsch einfach ab ist. Jennifer Rostock haben es geschafft, sich nicht mit peinlichem Gezoffe und Eifersüchteleien über Wasser zu halten, sondern hatten ein paar andere, wesentlich sympathischere Ideen, um ihre treue und stets wachsende Anhängerschaft glücklich zu stellen. Eine emanzipierte, volltattoowierte Frontfrau sieht man eben auch nicht alle Tage. Kommen dann noch politische Statements in den sozialen Netzwerken dazu, werden zwar Feinde gemacht, aber eben auch mehr Anerkennung gewonnen. Mit alldem ist nun jedoch vorzeitig Schluss. Eine unbestimmte Pause ist angekündigt. Bevor die eintritt, durfte nochmal ein fulminantes Best of auf 21 Konzerten gefeiert werden – und zwar nicht mit einem kleinen Bums, sondern viel mehr mit einer ganzen Batterie an Chinaböllern.
„Jennifer Rostock Bleibt“ heißt das 2 CD + 2 DVD (alternativ eine Blu Ray) starke Paket, das wirklich keinen Wunsch offenlässt und überragend gut gelungen ist. Es präsentiert einen Mitschnitt von zwei der drei letzten Konzerte der Band, alle drei veranstaltet in der Columbiahalle in Berlin. Dreimal hintereinander auszuverkaufen ist gar nicht so selbstverständlich. Eine Band, die es mit keiner einzigen Single in die Top 30 schaffte, dafür allerdings mit den letzten vier Alben stets bis in die Top 10, braucht eine wirklich hartnäckige Fangemeinde, um solche Zahlen vorweisen zu können. Und das muss man dem Quintett lassen: alle Bandmitglieder sind seit Anfang an dabei und haben in den letzten zehn Jahren quasi nichts anderes getan, außer im Studio oder auf der Bühne zu stehen. Fleißig können die.
Das wird bei beiden Filmen, die auf den Bildträgern geboten werden, mehr als deutlich. Die 70minütige Dokumentation zeigt jede mögliche Station und beginnt sogar weit vor Jennifer Rostock. Die beiden kreativen Köpfe – Frontfrau Jennifer Weist und Keyboarder Joe Walter (fast alle Songideen gehen auf seine Kappe) – kennen sich seit dem Kindergarten und musizieren seit ihrer Jugend zusammen. Ein paar Jahre später ist man zu fünft und gelangt mit Durchhaltevermögen an einen Plattenvertrag. Diese und alle weiteren, erwähnenswerten Ereignisse sind in dem wirklich überraschend guten Zusammenschnitt zu sehen. Neben unzähligen Interviews mit Crewmitgliedern, Produzenten, Managern, Promotern und natürlich Bandmitgliedern, gibt es Schnipsel aus Fernsehauftritten und Konzerten, aber auch Geschichten über Morddrohungen und Alkoholeskapaden. Irgendwie wirkt alles sehr authentisch, immer ein Stück weit selbstironisch und schlichtweg wie die Band aus der Nachbarschaft. Eben das hebt die Doku von vielen anderen ab und macht sie kurzweilig und informativ, auch für die weniger großen Hardcore-Fans.
Warum der Erfolg größer wurde, präsentiert das knapp 127 Minuten lange Konzertvideo, um das es im Eigentlichen gehen sollte und so auch auf den beiden CDs zu hören ist. Obwohl der Charterfolg singletechnisch nie wirklich einschlug, muss man beim Zuschauen ein Eingeständnis machen: die Hits kommen hier am laufenden Meter! Tatsächlich fällt es schwer, einen klaren Favoriten zu nennen, bei der Anzahl an wirklich guten Songs, die auf der 22 Songs starken Setlist präsentiert werden. In chronologischer Reihenfolge geht es vom Debüt „Kopf oder Zahl“ aus 2008 straight durch bis zum 2017er Abschluss „Die guten alten Zeiten“. Dazwischen unzählige, teils überdurchschnittlich lange Ansprachen, die auch emotional einen guten Bogen geben, nicht nur das typische „Wir danken euch“ beinhalten und Fan-nah wirken. Zwar ist Jennifer wie eh und je immer an der Grenze des Overacting, wo ein Stückchen weniger Geschreie und Prollowahn manchmal mehr Coolness hätte – dafür gleicht sie mit ihrer schier endlosen Power alles aus. Echt erschreckend, wie jemand zwei Stunden so ein Workout körperlich, aber auch ganz besonders gesangstechnisch durchsteht. Hut ab! Joe, Baku, Christoph und Gastgitarrist Elmar wirken grandios gelaunt, spielen auf den Punkt und drücken die Crowd richtig gegen die Wand. Soundtechnich bietet das „Live aus Berlin“ aus 2012 zwar spannendere Versionen, außergewöhnlichere Features und kreativere Spielereien, da diesmal zu 90% die Albumarrangements geboten werden – dafür ist an Showelementen ordentlich zugelegt worden. Von einem durch die Meute fahrendem Bett über Konfettibomben bis hin zu Pyroeffekten und Moshpitspektakeln ist einfach alles dabei, was so geht.
Ganz egal ob „Mein Mikrofon“, „Hengstin“, „Himalaya“, „Du willst mir an die Wäsche“, „Der Kapitän“, „Es war nicht alles schlecht“, „Alles cool“ oder auch „Haarspray“ – Jennifer Rostock bieten auf lyrischer Ebene mit das Beste, was deutsche Musik in den letzten Jahren so hergab. Meilenweit ausgereifter und durchdachter als die ganzen Giesingers und Forsters der Welt braucht hier die eine oder andere Metapher auch gerne mal drei Anläufe, bis sie richtig Klick gemacht hat. Ob einem der Rock-Punk-Pop-Electro-Trap-Mix musikalisch zusagt, steht zwar auf einem anderen Blatt, eins wird’s hingegen sicher nicht: Eintönig.
Leider verbauen es sich die gelungenen Akustikversionen von „Irgendwo anders“ und „Ich kann nicht mehr“ ein bisschen selbst, indem sie völlig unnötig bereits nach Strophe Zwei enden. Jennifer beweist gerade hier ihre Wandelbarkeit und gibt ihrer Gratwanderung zwischen Shouting, Rap und energievollem Gesang noch eine weitere Facette, nämlich die der gefühlvollen Balladeninterpretin. Unverständlich, dass diese Momente so kurz ausfallen. Ebenso schade ist, dass die Gesangsspur ein wenig zu bearbeitet klingt. Etwas rauer und weniger Feinschliff hätte mehr Konzertfeeling versprüht. Aber das ist Meckern auf höchstem Niveau.
So oder so bietet „Jennifer Rostock Bleibt“ ein nahezu perfektes Package auf allen Ebenen: spannend und informativ bei der Doku, musikalisch volle Punktzahl, starke Bühnenpräsenz und ein Hit auf Hit-Feuerwerk. Selbst auf filmtechnischer Ebene sind gerade Kameraführung bzw. Schnitt präzise und stimmig gewählt und fangen alles Wünschenswerte in gestochenen Bildern ein. Wer trotzdem einen Tipp zum Reinschauen braucht, sollte es mit „Ein Schmerz und eine Kehle“ probieren, das durch seine Intensität Gänsehaut beschert. Jennifer Rostock bleibt und kommt wieder, hoffentlich!
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