Mit Chromatica liegt nach langer Wartezeit endlich das sechste Studioalbum von der großen Lady Gaga vor. Unsere beiden Hardcore-Fans Julia und Christopher haben sich das Werk zur Brust genommen.
Julia kann der Platte nur in manchen Punkten etwas abgewinnen:
Vielsagende Albencover gehören in der Karriere des Gesamtkunstwerks Lady Gaga einfach dazu. In der Ära der schlichten schwarz-weiß-Selbstporträts auf “The Fame Monster” und “Born This Way” hatte sich Lady Gaga im Mainstream als exzentrische, aber eben auch stilbewusste Gallionsfigur der LGBTQI*-Gemeinde hochgespielt. Die grelle Collage auf “Artpop” stand gleichbedeutend für den ambitionierten Rundumschlag des experimentellen Werks, “Joanne”s Pastelltöne und der ikonische Hut von Germanottas Tante deuteten dafür den reduzierten Sound an – und eben auch Gagas ersten Momente in der öffentlichen Wahrnehmung als bemerkenswerte Künstlerin, sogar fernab des Pop-Genres. Auf Chromatica lässt sich die neueste Inkarnation Lady Gagas als Cyborg-Kriegerin von einer großen metallischen Konstruktion festhalten. Ihr Blick bleibt selbstbewusst, ihre Waffen funkeln. Willkommen in einer artifiziellen Galaxie, Milliarden Lichtjahre von “Joanne”s Sanftmut entfernt. Hier gilt: Wer nicht tanzt, verliert.
“This is my dance floor i fought for”
Rein diskursiv betrachtet spricht das Album Bände: Jeder Lyric-Fetzen eine feministische Parole, jeder Beat ein Paukenschlag, die künstlerischen Videos und Artworks verstärken die emanzipierte Kunstfigur noch. Die Rückkehr zum Sound der glorreichen Anfangstage als selbstbewusste Entscheidung und eben nicht aus rein wirtschaftlichen Gründen kauft man Gaga somit zwar ab, die Überproduktion dieser Strategie wirft dafür umso mehr Fragen auf. Wo auf “Joanne” noch Marc Ronson den Großteil der Produktion übernahm, stand jetzt eine ganze Horde an männlichen DJs am Mischpult Schlange, darunter Burns, Axwell, Benjamin Rice, Skrillex Madeon, Tom Norris, Ely Rise, Johannes Klahr, LIOHN und Madison Love. DARUNTER wohl gemerkt. Zu viele Köche verderben hier den Brei ganz anders als erwartet: Anstelle einen Hahnenkampf über den krassesten Trademark-Sound zu bieten, entpuppen sich eben jene Produzenten und Songwriter als Geschwisterkinder, denn so homogen klang ein Lady Gaga-Album bisher noch nie. Und das ist nicht zwingend positiv.
Tanzen im Regen
Hat man sich nämlich einmal an die wuchtigen Trash-House-Beats des Quasi-Openers “Alice” gewöhnt, kann man sich auf eine 40-minütige Repetition eben dieser einrichten. Von den sonst oft verschachtelten Songstrukturen, die Lady Gaga als begnadete Songwriterin aus dem Effeff beherrscht, ist kaum etwas zu hören, ebenso wenig von unvorhersehbaren Akkordfolgen oder Querverweisen durch alle Genres. Stattdessen schämt sich Chromatica so wenig für seinen Trash-Anteil wie ein Kind für einen Schokofleck auf dem Shirt. Dabei entstehen dann so egale Songs wie “Fun Tonight” oder “Replay”, die zwar wichtige Themen wie mentale Gesundheit und das Leben als berühmte Persönlichkeit behandeln, diese aber im ganzen Beat-Getöse vollkommen überrennen. Besonders heftig fällt dieser Trash-Anteil dann in “Plastic Doll” aus, das sich zwar inhaltlich als emanzipatorische Antwort auf “Barbie Girl” versteht, aber eben kein Stück weniger plump daherkommt als der 90er-Dauerbrenner. Zu allem Überdruss darf auch das Feature mit Elton John (“Sine from Above”) nicht in eine ruhige Verschnaufpause führen – die gefallen sogar mir auf Gaga-Alben trotz meiner Balladen-Allergie – stattdessen gibt es hier Disco Boys-Beats und Kitschfaktor, der förmlich nach dem ESC schreit.
Aber es ist eben trotz all dieser fragwürdigen Momente nicht alles schlecht oder langweilig. Gerade die Vorab-Singles “Stupid Love” und das “Crying-At-The-Discotheque”-Enkelkind “Rain On Me” unterstreichen Lady Gagas Status als Madonna des 21. Jahrhunderts. “911” und der Closer “Babylon” zeigen mit geheimnisvoll-monotonen Beats, schicken Bläser-Einsätzen und spannenden Computer-Harmonien, wie viel “Artpop” noch in Chromatica steckt; mit dem viel zu kurzen BLACKPINK-Feature “Sour Candy” gehen diese ambitionierten Elektro-Experimente sogar noch einen Schritt weiter. Im Gesamteindruck geht Chromatica aber bei all dem hingebungsvollen Tanzen doch zu schnell die Puste aus, die Beats lassen zu wenig Modifzierung zu, Gagas Stimme kriegt kaum Platz zum Atmen, viele Tracks sind ähnlich verzichtbar wie die drei Interludes. Was am Ende bleibt, sind immerhin die großartigen Singles und das Statement. Und dieses ist ähnlich ikonisch wie das Albumcover. Trotz all der Kritik – Lady Gaga hat ihren Status als übergroße Künstlerin also auch mit ihrem sechsten Album weiter untermauert. Das Fundament funkelt jetzt nur wieder viel mehr.
—
Christopher ist da noch einen Ticken strenger:
„In Chromatica no one thing is greater than another, and kindness rules all.“. Die einzige, wirkliche noch amtierende Pop-Königin Lady Gaga ist zurück. Sie kämpft erneut für Gleichberechtigung, holt ihre Little Monsters ins gemeinsame Boot und will Liebe für Jeden. Und wie wird das gestaltet? Indem wir alle 43 Minuten lang durchtanzen sollen.
Die Spannung stieg ins Unermessliche. Wie würde das neue Album von Stefani Joanne Angelina Germanotta – so ihr bürgerlicher Name – wohl klingen? Nachdem mit „Artpop“ (2013) der chartfähige Dance-Pop ein wenig überstrapaziert wurde, obwohl es sich um ein qualitativ hochwertiges, wenn auch etwas schwer zugängliches Album handelte, musste ein neuer Sound her. Den gab es auch in einer doch überraschenden Art und Weise namens „Joanne“ (2016). Country-Singer-Songwriter stand auf der Agenda, überzeugte Kritiker umso mehr, Fans zumindest zum größten Teil. Kommerziell funktionierte der Austritt in Form einer musikalischen Familientherapie nur bedingt. Mit „Cheek To Cheek“ (2014) gab es dazwischen sogar Jazz und Swing neben dem 60 Jahre älteren (!) Tony Bennett, was bei Spartenliebhaber für eine Verneigung sorgte. Zuletzt schaffte die Teilnahme an dem mehrfach Oscar-nominierten „A Star Is Born“ (2018) mit dem Titelsong „Shallow“ den größten Gaga-Hit seit einem Jahrzehnt. Was folgt also daraufhin? Schwer vorauszusehen.
Das Ergebnis nennt sich Chromatica und zeigt die mittlerweile 34-jährige New Yorkerin als futuristische Kämpferin von einem fernen Planeten. Optisch ein wenig merkwürdig und speziell, aber so war sie früher immer. Die Bildgewalt deutete also schon darauf hin, dass sich von der herrschenden Seriosität und Ernsthaftigkeit der letzten Jahre verabschiedet wurde. Die erste, bereits im Februar veröffentlichte Single „Stupid Love“ bestätigte diesen Eindruck und lieferte einen lupenreinen Bubblegum-Dance-Track, der ohne einschlägigen Refrain auskommen musste, aber dennoch für ordentlich Spaß sorgte. Real Gaga is back! Oder?
Zunächst für Anfang April angekündigt musste das Releasedatum dem Coronavirus erliegen und schafft erst sieben Wochen später den Sprung in die Plattenläden und Streamingdienste. Genau eine Woche zuvor droppte die zweite Vorabnummer „Rain On Me“ mit der ebenfalls mittlerweile hoch angesehenen Ariana Grande, die in der Zielgruppe gegenwärtig einen ähnlich großen Status vorweißen kann. Wie klingt es wohl, wenn zwei extrem gute Sängerinnen zusammen einen Song machen? Genau, nach Dancefloor. Moment? Ja, richtig. Statt auf Stimmen setzt auch „Rain On Me“ ähnlich wie der Vorbote auf Beats und gute Laune. Der vorzeitige Eindruck von Chromatica scheint sich zu verfestigen.
Nun liegt das sechste Lady Gaga-Studioalbum vor. Dass die Sängerin mehr ist als einfach nur eine kleine herumspringende Hupfdohle, muss längst nicht mehr diskutiert werden. Lady Gaga hat Trends gesetzt, mutige Kleidung getragen, für unzählige weltweite Hits gesorgt, sensationelle Musikvideos gedreht, Schauspieltalent bewiesen, mehrere Male auch gesanglich überragende Auftritte präsentiert, auf der Welt aufwendige Tourneen gespielt, Skandale nahezu komplett ausgespart und sich als Mutter der LGBTQI*-Community herauskristallisiert. Von all dem bleibt auf Chromatica leider nur noch wenig, nämlich der Name Lady Gaga. Die Marke, die für bahnbrechenden Pop steht. Inhaltlich geht aber der Großteil des Ausnahmetalents leider hops.
Mit 16 Tracks schießt die neue LP zumindest quantitativ schon mal über die mittlerweile standardgewordene Halbestunde hinaus. Drei der Songs sind allerdings in sich zusammenhängende orchestrale Interludes, die breitbändig und nach Filmsoundtrack klingen – hat man etwa Hans Zimmer aufgelegt? Der Rest hingegen ballert in typischer Streaminglänge – gerade einmal drei Songs dauern länger als 3:15 Minuten – volle Pulle Richtung Tanzfläche, und das ohne Verschnaufpause. Das ist zwar soundtechnisch noch konsequenter durchgezogen als bei „Joanne“, aber mit entschieden weniger Qualität. Radiofähiger Pop, der auch den Eltern gefallen könnte? Fehlanzeige. Große Gesangsperformances, die nicht so einfach nachzumachen sind? Erneute Fehlanzeige. Fesselnde Videos mit Storytelling oder hervorragender Ästhetik? Bisher auch Fehlanzeige.
Chromatica ist Retro-House, der sich stark an den 80ern und 90ern orientiert und damit die aktuelle Musikmode aufgreift, old fashioned und gleichzeitig modern zu sein. Gerade der erste Durchlauf macht es dem Zuhörer schwer, die einzelnen Lieder überhaupt unterscheiden zu lassen. Mochte man ansonsten auf den Gaga-Alben auch mal entspannte, intime Balladenmomente, sucht man diese nun vergeblich. Stattdessen erweckt das Konzeptwerk den Eindruck, es sei ein Remixalbum. Könnten wir bitte im Anschluss die regulären Albumversionen hören? Ach, das sind die Albumversionen. Ok.
Dosiert ist das Alles natürlich nicht schlecht. Große Produzenten wie Bloodpop, Axwell und zig Weitere legen selbstverständlich keine schlechte Ware vor, handelt es sich immerhin um den Output einer Lady Gaga. Reduziert man aber die Lieder mal auf ihre Instrumentale, handelt es sich um völlig austauschbare, uninteressante Dance-, Techno-, Trance- oder House-Beats, die man wirklich schon in tausendfacher Ausgabe so gehört hat. Das ist weder kreativ noch neuartig noch wirklich fesselnd. Lady Gagas Stimme wird dabei gehäuft durch Autotune und diverse Möglichkeiten des Equalizers so entfremdet, dass auch dieses markante Merkmal keinen Raum findet.
Einzeln ausgewählt mag der eine oder andere Track auch wirklich überzeugen. Sei es das von Durchlauf zu Durchlauf wachsende, bereits erwähnte „Rain On Me“ mit Ariana, das in sich schlüssig klingende „Enigma“ mit einprägsamer Hook oder auch die „The Edge Of Glory“-Saxophon-Hommage in „Babylon“. Andererseits klingt aber bei letztem der Beat nach „Finally“ von CeCe Peniston kombiniert mit Gagas-Song „Black Jesus Amen Fashion“, das Duett mit keinem geringeren als Sir Elton John wie ein Überbleibsel des Safri Duos („Sine From Above“) und die Kooperation mit der erfolgreichen südkoreanischen Girlgroup BLACKPINK wie eine nicht fertige Demo („Sour Candy“). Da horcht man doch kurzzeitig auf, wenn bei „911“ mal ein Hauch von Variation durch die Boxen dringt und der leicht roboterartige Refrain an „Artpop“-Zeiten erinnert. Mit „Plastic Doll“ und „Fun Tonight“ werden trashige Tiefpunkte erreicht, die es so zuletzt auf dem Debütalbum „The Fame“ gab, auf dem sich noch nicht die erstklassigen DJs der Erde um die Mitarbeit am Gaga-Album stritten. Angenehme Refrains wie in „Alice“ hätten mit einem anderen Sounddesign richtig gut werden können. Hätten. Textlich bewegt man sich auf kalkulierbarem „Ich bin stärker geworden“-Emanzipationsboden.
Chromatica ist das langersehnte Album einer der größten Künstlerinnen überhaupt und inhaltlich eine wirklich große Enttäuschung. Keine Vollkatastrophe, aber eben eine Platte, die ausschließlich darauf abzielt in der nächsten Staffel RuPaul‘s Drag Race und auf sämtlichen Christopher Street Days zu laufen, statt global zu fruchten und universell auch nachhaltig zu überzeugen. Viele werden es feiern, eben weil Lady Gaga vorne draufsteht. Strenggenommen könnte es aber auch Selena Gomez so hinkriegen. Kaum Abwechslung, eindeutig zu wenige herausragende Tracks. Ein Pluspunkt für den Mut und die Konsequenz. Trotzdem ist am Ende einer der meisterwarteten Longplayer 2020 gehörig gegen die Wand gefahren oder besser im Raumschiff gegen einen Asteroiden geschmettert.
Das Album Chromatica kannst du dir hier kaufen.*
Und so hört sich das an:
Website / Facebook / Instagram / Twitter
Die Rechte fürs Cover liegen bei INTERSCOPE.
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.