Welche Musikrichtung verbindet man mit dem Eurovision Song Contest? Große, kitschige, dramatische Balladen? Stampfende Pop-Songs mit Balkanbeat? Auf die Mehrheit der Beiträge mag das wohl zutreffen. Ab und zu tauchen aber doch Titel auf, die man keinesfalls erwarten würde. Einer davon war die Nummer aus Belgien im Jahre 2017 in Kiew. Die noch nicht mal volljährige Ellie Noa Blanche Delvaux stand auf der Bühne und belegte zum wiederholten Male einen sehr guten 4. Platz für ihr Land, aber ebenso zum wiederholten Male nicht den Sieg. Generell reichte es für Belgien bisher erst einmal für die Trophäe und das vor über 30 Jahren. Dabei gab es zig Songs, die es verdient gehabt hätten, am Ende an der Spitze zu stehen. Und dann gab es noch den Indie-Dark-Pop „City Lights“ von Blanche, der für uns der beste ESC-Song des vergangenen Jahrzehnts war (lest HIER nochmal unsere Retrospektive) – und das aus über 400 angetretenen.
„City Lights“ hatte keine großartige Show, aber kompositorisch und in der Produktion so internationales Feeling, dass es besser war, fesselnder, hypnotischer, einprägsamer. Das lag einerseits an dem sensationellen Aufbau und einer Qualität, die auch nach 200 Durchläufen nicht nachlässt, andererseits aber mindestens genauso stark an der beeindruckenden Altstimme der jungen Künstlerin, die erst wenige Monate zuvor bei „The Voice Belgique“ antrat und auch ordentlich weit kam. Für den 1. Platz reichte es zwar auch in jenem Format nicht, aber anschließend eben für eine Teilnahme am ESC, daraufhin für eine Platin-Veredelung für den Übersong, für die Singles-Chartspitze in Belgien, für einen Chartentry in Deutschland und für über 27 Millionen Spotify-Streams bis heute. Zum Vergleich: der Gewinnersong aus demselben Jahr kommt auf 19 Millionen. Dazu braucht man nichts Weiteres sagen.
Seitdem sind drei ganze Jahre ins Land gezogen. Von einem Album-Schnellschuss kann also keinesfalls die Rede sein. Blanche hat sich für ihr Debüt Empire Zeit gelassen – vielleicht ein wenig zu lang? Der Hype um ihren faszinierenden Hit ist vorüber, die mittlerweile fast 21-jährige aber noch weiterhin am Start. Sechs Singles folgten nach der Eurovision-Welle, drei davon in den letzten Wochen, wovon es insgesamt vier nun auf die LP schafften. Und nein, „City Lights“ gehört nicht dazu.
Mit „Moment“ gelang ihr 2018 ein weiterer, kleiner Erfolg in ihrer Heimat – aber auch von dem Track wurde sich verabschiedet. Blanche macht einen auf radikal. Empire ist konsequent, dagegen kann man nichts sagen. 13 Songs inklusive eines Intros, 46 Minuten Spielzeit. Songs, die sogar mal die vier Minutenmarke knacken und sowohl in der Länge als auch im Sound aktuelle Hörgewohnheiten ein wenig auf die Probe stellen.
Wer den nächsten Underground-Hit à la „City Lights“ sucht, muss sich davon spätestens jetzt verabschieden. Tatsächlich gibt es nämlich offensichtlich exakt keinen Song, der im Radio gespielt werden will. Es wird gar nicht erst probiert, der breiten Masse zu gefallen. Blanche macht Musik für Erwachsene, aber keine für den Mainstream. Die gesamte Dreiviertelstunde konzentriert sich nicht darauf, schnell ins Ohr zu gehen und auch nicht für lockere Stimmung zu sorgen. Stattdessen ist die Grundhaltung düster, sperrig, verträumt und sphärisch.
Ganze dreimal wird die Temposchraube ein wenig angezogen („Till We Collide“, „Fences“, „Summer Nights“), wobei der geneigte Pophörer wohl auch hier maximal von Uptempo sprechen würde. Empire ist eine Platte, die sich am besten mit Kopfhörern und geschlossenen Augen hören lässt. Auf der Couch oder im Bett. Der Soundteppich setzt sich stets aus elektronischen Gebilden zusammen, die mal nach klirrendem Eis klingen („Summer Nights“), nach Akustikgitarre am Meer („Soon“) und mal nach stampfenden Orchestersound mit Drumcomputer („Empire“) oder Endzeit-Depression („Pain“). Blanches Stimme behält weiterhin ihren mystischen, leicht rauchigen Style und wird stets mit ordentlich Echo, Verzerrer und Doppelungen unterlegt. Das ist äußerst spannend und reif, aber auch nicht leicht verdaulich.
Irgendwie kommt das langersehnte Album gerade ein wenig zur falschen Zeit. Der anstehende Sommer wird vor dem inneren Auge durch die schweren, künstlerisch anspruchsvollen Spielereien und Klanggewitter ein wenig zu melancholisch, handelt es sich bei Empire doch eindeutig um eine Herbstplatte, die zu einem Rotwein wesentlich besser klappt als zu einem Caipirinha. Trotzdem gibt es die eine oder andere bittersüße Nummer zu entdecken („1, 2, Miss You“, „Fences“, „Stubborn“) – allerdings besser gut portioniert. Das Gesamtbild ist doch eine Spur zu erdrückend und leider auch einen Hauch zu wenig abwechslungsreich.
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