Da wage es nochmal jemand zu behaupten, der Eurovision hätte keine Relevanz. Måneskin haben es geschafft. Und zwar so richtig. Zwar kamen sie nicht komplett aus dem Nirgendwo, immerhin lief es in Italien schon einige Zeit ziemlich ordentlich, aber ein dermaßen einschlagender Erfolg weltweit, sogar außerhalb von Europa – das ist keinesfalls selbstverständlich. Nach ABBA gilt das italienische Quartett als erfolgreichster Act, der je am ESC teilnahm – und ABBA zählen immerhin zu den zehn erfolgreichsten Bands since ever. Nur nochmal so, bevor wir’s vergessen.
Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg. Måneskin kommen zwar erst auf zehn Millionen, ABBA auf das 15-fache, aber dass man überhaupt derartig riesige Vergleiche ziehen kann, ist schon purer Wahnsinn. Und das in einer Zeit, in der Musik kaum noch so richtig bewegt, also im Sinne von verzückt, verzaubert, polarisiert, bleibenden Eindruck hinterlässt. Doch diese Band ist anders. Diese Band ist eine Symbiose aus Retro und Gegenwart. Sie sind Rock’n’Roll, sie sind Italienisch wie Englisch, sie sind musikalisch wie sexy, queer, edgy und doch Identifikationsfiguren. On top: unbeschreiblich cool.
Mit ihrem “Zitti e buoni” machten sie sich über Nacht einen Namen, mit ihren beiden Singles “Beggin'”, einem The–Four–Seasons– bzw. Madcon-Cover, und “I Wanna Be Your Slave” gab es in 2021 gar zwei der größten Welthits von den Italiener*innen. Dabei ist Music made in Italy nahezu nie auf so vielen Radaren anzutreffen. Aber wie bereits erwähnt, Måneskin sind ihre ganz eigene Kategorie.
Doch das, was jetzt passiert, macht die Sache erst richtig spannend: Mit Rush steht nun das erste Album in den Startlöchern, nachdem die Welt sich nach Måneskin die Finger geleckt hat. Auftritte bei Rock am Ring, Coachella und alles andere, was wichtig ist, hat man auch von der To Do weggestrichen – wie liefert man nun ab und erfüllt Erwartungen? War man vorher nur damit beschäftigt, dem Heimatland zu gefallen, wollen nun mehrere Kontinente Hits serviert bekommen. Der Stresspegel schnürt förmlich den Hals zu.
Mit 17 Songs und einer Gesamtlänge von 52 Minuten ballern Thomas, Victoria, Ethan und the one & only Damiano mit voller Breitseite raus. Nix da mit zehnmal 2:30 Minuten. Rush setzt bei der ersten Single-VÖ nach dem Eurovision an – “Mammamia”, Oktober 2021 – und nimmt “Supermodel” und “The Loneliest” aus 2022 mit, setzt jedoch alle drei Bonus-Track-like ans Ende der LP. Frei nach dem Motto: “Kennt ihr doch eh alle schon längst, wenn ihr die überhört habt, macht halt vorher aus!”
Die 14 Tracks davor rasen Måneskin wie ein ICE mit Vollgeschwindigkeit durch die Ohren und den Kopf. Rush macht seinem Namen alle Ehre und klingt in der Tat sehr eilig, sehr temporeich. Zu keiner Sekunde klingt die Gruppe wie ein schlechtes Abziehbild, zu keiner Sekunde enttäuscht man mit abstrusen Ausritten in fremde Genres.
Gerade am Anfang drückt die Platte hervorragend. Der Mix aus Glam und Classic Rock mit immer wieder extrem starken Hooks ist Måneskins Erfolgsformel, die gnadenlos ausgespielt wird. “Own My Mind” ist Damianos lasziver Gesang, klirrende Gitarren und ordentlich Drums im Refrain. Das geht als Opener kaum besser. Die erst vor wenigen Tagen erschienene letzte Vorabsingle “Gossip” mit Tom Morello von Rage Against The Machine an der zweiten Gitarre legt gar noch einen drauf. Wäre in jedem 2000er-Club ein Dauerbrenner geworden, der jede Stunde gewünscht wird. On point.
Am Ende ist Rush jedoch der kleinste gemeinsame Nenner aller Måneskin-Erfolgszutaten. Natürlich ist “Bla Bla Bla” mit seiner absurd-irren Sexstory ein guter Song, aber fast eine 1:1-Kopie von “I Wanna Be Your Slave”. Groovige Tanznummern wie “Baby Said” fallen da positiv aus dem Muster und sind irgendwo zwischen den Chili Peppers und Panic. Auch “Gasoline” in seinem düsteren Stadiongewand entlockt den Talenten ein wenig Unerwartetes. Insgesamt zeigte sich die Band auf ihren Vorgängerwerken aber doch spielfreudiger und weniger gefällig. Das fällt auch daran auf, dass man erst nach elf Songs erstmalig zur italienischen Sprache wechselt. Wie super schade ist das?! Nicht verkaufsstark genug? Dabei erzählt “Il dono della vita” durch seine Melodie genug, die Sprachbarriere ist absolut zweitrangig. Wer das alte Zeug nicht kennt, sollte unbedingt “Il ballo della vita” und “Teatro d’ira Vol. 1” auschecken. Da wird doch mehr versucht, weniger hittig komponiert und mehr aufs eigene Herz gehört.
Bloß nicht falsch verstehen: Rush ist zwischendrin immer wieder geil. “Feel” ist wie ein frischer Aerosmith-Banger und die zwei 2022-Songs “Supermodel” und noch mehr “The Loneliest” absolute Überlieder. Eine dermaßen starke Rockballade wie “The Loneliest” gab es zuletzt seit “kann mich nicht mehr dran erinnern”. Übrigens in Italien die zweite Nummer-1-Single nach einem Spitzenreiter in 2018. Nur bei uns wurd’s gekonnt boykottiert. Skandalös.
Måneskin hatten keine einfache Aufgabe, eher das komplette Gegenteil. Die haben sie solide gemeistert. Allerdings sind diese 4 ohne zu übertreiben Ausnahmetalente. Eine Band, die ein Genre rettet und gerade revolutioniert. Da ist ein gutes Album zwar schön, aber da geht noch mehr. Wetten, dass da sogar noch viel, viel mehr geht? Wir hören uns wieder. Rock’n’Roll isn’t dead.
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