Die 2020er sind weder die 90er noch die 00er. Das Auge und das Ohr haben sich an andere Gewohnheiten herangewagt, Reizüberflutungen gehören zur Tagesordnung, Provokation ist nur in Extremfällen überhaupt noch wahrzunehmen und dann auch innerhalb von wenigen Tagen wieder vergessen. In Zeiten, in denen sich jede Privatperson über Social Media-Portale bis ins Endlose selbstinszenieren kann, hat es ein Marilyn Manson gar nicht mehr so einfach. 1994 brachte der „God Of Fuck“ sein Debütwerk auf den Markt – mit seiner zweiten LP „Antichrist Superstar“ erklomm er den Thron des wahrgewordenen Teufels.
Das Böse hat selbstverständlich neben angsteinflößenden Attributen auch stets etwas Faszinierendes an sich. Somit schaffte Brian Hugh Warner mit seiner gleichnamigen Band von eben genanntem Album sieben Millionen Exemplare zu verkaufen, die Menschheit in Fans und Feinde zu spalten, aber nahezu omnipräsent für mehrere Jahre in allen Mündern für Gesprächsstoff zu sorgen. Die Zusammensetzung aus derben Klängen mit eingängigen Melodien, bizarren Videos, gewagter Optik und klugen Interviews machten aus Marilyn Manson eine der größten Kultfiguren des Showbusiness. Doch so wie ein Saw VI nicht die gleiche Durchschlagskraft wie ein Saw I bietet, bietet ein Manson nach über 25 Jahren Musikkarriere nicht mehr die gleiche Schocksicherheit und Intensität.
Wer Manson mochte, weil ihn besonders das Kontroverse anmachte, kann eigentlich seit 15 Jahren den mittlerweile 51-jährigen ignorieren. Nach seinem in Deutschland erreichten kommerziellen Höhepunkt mit „The Golden Age of Grotesque“ (2003) war der Großteil der Manson-Story quasi auserzählt. Vieles wiederholte sich – außer der Musik! Das muss man dem Herrn nämlich lassen: trotz mangelndem Ideenreichtum in der Optik, gab es fortlaufend facettenreiche Songs. Mal mehr gute, mal weniger gute.
Diesen Weg geht der All-Rounder aus Ohio auch gegenwärtig konsequent weiter. Sein 11. Album hört auf den Namen We Are Choas – und kommt natürlich rein zufällig am 11. September auf den Markt. Manson lässt eben keine Option des Auffallens aus, die sich irgendwie anbietet. Politisch war er immer, aber eigentlich auch treffsicherer in seinen Überlegungen. Denn bis auf das Veröffentlichungsdatum hat We Are Chaos relativ wenig Messages. Einzig und allein der Albumtitel gibt das aktuelle Weltgeschehen ganz gut wieder. Wenn nicht jetzt grade Chaos herrscht, wann dann?
Konzentrieren wir uns also doch einfach auf das, was an Tönen aus den Boxen scheppert. Scheppern tut kaum etwas. Denn, wie bereits erwähnt, wiederholt sich Manson nicht gern. Stattdessen hat der Schockrocker den Country für sich entdeckt. Schnappatmung, Herzrasen, Panik – ist heutzutage wirklich auf Nichts mehr Verlass? Marilyn Manson macht Country? Ja, aber wohl dosiert. Zusammen mit dem fast nur in den USA bekannten Shooter Jennings hat Manson seinen Sound mit Americano gewürzt, um weitere Facetten seiner schillernden Persönlichkeit zu präsentieren.
Das Ergebnis ist ok, aber wirklich nur ok. Nach einer Reihe von Pleiten zwischen „Eat Me, Drink Me“ (2007) und „The Pale Emperor“ (2015), die alle nie komplette Grütze waren, aber eben nur wenige Highlights beinhalteten, ging es zuletzt mit „Heaven Upside Down“ (2017) eigentlich in die richtige Bahn zurück. Ein Album, das einem Best-Of-Manson glich und viele hübsche Ideen zusammenbrachte. We Are Chaos ist ein Schritt zurück.
Musikalisch wandern die 10 Songs mit einer Spiellänge von 42 Minuten zwischen entschieden zu leichtem Industrial, ganz gutem Glam und eben Country-Einflüssen hin und her und treten dabei auch einige Male in die Kitschpfütze. Mit dem Titelsong zeigte Manson bereits einige Wochen vorab, dass er ein Wagnis eingeht und damit seine Fans der härteren Gangart endgültig verabschiedet. Dennoch hält das melancholische Stück eine Art Weltuntergangstimmung fest und bleibt angenehm im Ohr. „Paint You With Love“ ist bereits beim bloßen Namen ein No Go und klingt genauso schlimm, wie man es befürchtet. Chöre und Akustikgitarren lassen große Monsterballaden wie einst ein „Coma White“ noch mächtiger und stärker erscheinen und werden innerhalb von Sekunden zurückgewünscht. Andererseits bietet Manson mit „Perfume“ Glam Rock an, der an Hochzeiten à la „Mechanical Animals“ (1998) erinnert, nur in nicht ganz so eingängig. „Keep Your Head Together“ hat ein wirklich groovendes Gitarrensolo und zeigt, dass die Singer/Songwriter-Qualitäten nicht gänzlich eingeschlafen sind, sondern immer noch Potenzial haben. Vieles klingt nach einer etwas derberen David Bowie-Hommage, was mit Sicherheit bei einigen Liebhabern beider Künstler das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Problematisch ist aber, dass auf lyrischer Ebene oftmals Ebbe statt Flut angesagt ist und viele Songs nach gut einer Minute auserzählt sind („Solve Coagula“, „Red Black And Blue“). Auf catchy Intros, die aufhorchen lassen, folgt oft zu wenig Substanz („Don’t Chase The Dead“). Den besten Song stellt „Infinite Darkness“ dar, dass mit Gruselstrophen startet und dann im Refrain ordentlich ballert. Hat was von „This Is The New Shit“ in softer und gefällt.
We Are Chaos ist die elfte Platte eines einzigartigen Künstlers, der es geschafft hat Kunst, Musik, Politik und weitere Ebenen zu verbinden – aber mit über 50 eben auch nicht mehr die Power und Frische bietet, die es benötigt, um interessant zu bleiben. Dennoch schön, dass er es immer wieder probiert und die Fahne weiterhin oben hält. We Are Chaos ist nicht schlecht, oftmals langweilig, hin und wieder aber auch ganz nett. Kann man machen, kann man lassen.
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