Neun Jahre lang haben sich Placebo für ihr achtes Studioalbum Zeit genommen. In der Zwischenzeit schrumpfte die Band um Brian Molko (Gitarre, Gesang) und Stefan Olsdal (Bass) zum Duo, veröffentlichte ein Best-Off und tourte mit diesem um die Welt. Achja: Eine Pandemie kam der Band auch noch dazwischen. Nun erscheint aber „Never Let Me Go”, Grund genug also sich dem Ganzen von zwei Seiten zu nähern. Uneinig sind sich unsere Autoren Christopher und Jonas schlussendlich aber nicht wirklich.
Christopher sagt dazu:
Wer mag eigentlich Placebo nicht? Niemand, oder? Man muss schon länger überlegen, um jemanden zu finden, der*die mit der Londoner Kultband wirklich so gar nichts anfangen kann. Der Grund, warum Placebo quasi keine*r missfallen, ist, dass sie einfach viel zu lange und viel zu oft schon zu coole Musik gemacht haben. So easy ist das. Und eben deswegen ist „Never Let Me Go” völlig konsequent genauso cool. Eigentlich könnte man hier mit der Review schon aufhören.
Achteinhalb Jahre haben sich Brian Molko und Stefan Olsdal Zeit gelassen. So etwas können sich eben nur Bands erlauben, die schon so lang am Start sind, dass Fans auch bis zum Sankt-Nimmerleinstag warten werden. Wie war das nochmal mit ABBA? Im Vergleich dazu sind die paar Jährchen bei Placebo natürlich viel eher eine kreative Verschnaufpause. Auffällig ist es aber allemal – zuvor gab es maximal vier Jahre Wartezeit, nun gleich mehr als das doppelte. Dabei lief es zuletzt mit „Loud Like Love” (2013) gewohnt gut, die Leadsingle „Too Many Friends” war sogar in Deutschland der erfolgreichste Track in den Charts, den Placebo jemals hier verbuchen konnten.
Hatten die Beiden durch ihre persönliche Coronaerfahrung jetzt genug zu erzählen? Einfach den Drang, mit etwas rauszugehen? Eigentlich auch völlig egal, Fakt ist, sie sind da. Die Tour-Termine sind längst bekannt. Über 50 Gigs sind in Planung, davon auch eine gute Menge in Germany. Passt ganz hervorragend, denn neben den Evergreens wäre eine Ladung neuer Songs bei dem doch recht gelungenen Output ziemlich angebracht, der nun in Form von „Never Let Me Go” vorliegt.
Auffällig: Placebo lassen sich von dem Hype, Songs in nicht mal drei Minuten Länge zu produzieren, nicht mal in Ansätzen beeindrucken und liefern stattdessen 13 Nummern, wovon gleich fünf die Fünfminutenmarke crashen. Das ist absolut der richtige Weg, denn das Allerbeste an „Never Let Me Go” ist seine Homogenität. Wo Placebo drauf steht, ist Placebo drin, dafür braucht es nur wenige Augenblicke, um es zu erkennen. Der Sound, der seit über 25 Jahren fruchtet, wird zu gut 80 Prozent übernommen. Die übrigen 20 Prozent reichen, um ein bisschen zu experimentieren.
Düstere Zeiten vor der Tür, düstere Zeiten ebenso aus den Boxen. Übersprudelnde Freude gab es zwar eh eher gut dosiert bei den Jungs, die Dosierung ist aber dieses Mal wirklich mehr eine Prise. „Never Let Me Go” hat dunkle Töne, erdrückt auch hin und wieder, macht aber gleichzeitig auch heimelig und friedvoll.
Mit Sicherheit klingen viele Titel wie dieser oder jener Song aus dem Repertoire, aber hat man eben einen so schicken eigenen Stil mit einer so einzigartigen Stimme am Mic, ist Veränderung auch gar nicht groß gewünscht. „Forever Chemicals” geht trotzdem mit einem elektronisch-klirrenden, leicht ohrenbetäubenden Intro los, bis es dann nach wenigen Sekunden in wunderbar treibenden Alternative-Rock übergeht. Ab dem Moment an folgen 13 Tracks, bei denen keins unter das Siegel „voll ok” absackt, dafür aber manche sich mit einem „Jo, so muss das” schmücken dürfen.
Haben also die klirrenden Synthesizer für den ersten Klangteppich gesorgt, geht es mit „Beautiful James” direkt Richtung berührenden Refrain mit wunderbaren Vocals, die alles liefern, was man als Placebo-Liebhaber*in benötigt. „Hugz” ist eher rotzig, krawallig und konfrontativ in den Lyrics, „Twin Demons” schnell und stampfend, „Surrounded by Spies” mystisch, atmosphärisch und mit unangepasstem Klanggewitter versehen, das in ein Pianooutro mündet. Dem hingegen punktet „The Prodigal” durch eine sensationelle, uplifting Streicher-Hook, die zeigt, dass auch kleine Überraschungen ganz, ganz viel bewirken. Großartig.
„Try Better Next Time” ist durch seine Ohrwurmlines noch am ehesten der Radiohit, der funktionieren könnte, weil er auch Gelegenheitshörer*innen überzeugen sollte. Mit einem kaum mitreißenden „Sad White Reggae” oder auch dem etwas zu eintönig geratenem „Happy Birthday In The Sky” gibt es aber auch zweimal, dafür jedoch immer noch okayes Mittelfeld-Füllmaterial. Auch das braucht man nicht skippen.
Hauptsache, man hält schön bis zum Ende durch, um das deepe und emotionale „This Is What You Wanted” noch mitzuerleben, was so stark mit Klavier, Gitarren und Synthies aufbaut, dass der sehr späte Drop wie eine Erlösung wirkt. Tolle Produktion. „Went Missing” gleicht einem Mantra, erinnert an „Twenty Years”, das auf “Sleeping With Ghosts” trifft und traut sich fast zwei Minuten lang sein Ende zu zelebrieren. Den Abschluss bildet ein Bossa-Beat mit bläserartigem Riff („Fix Yourself”) – ok, why not? Überraschungen eben. Besser hier und da, als gar keine oder entschieden zu viele.
Eigentlich gibt es da wenig zu beanstanden. Placebo sind auch nach einem Vierteljahrhundert Bandgeschichte immer noch das, was sie eh und je waren. Eigenwillig, einzigartig, unverkennbar, ziemlich gut. Nach dem einen oder anderen Hänger in der Karriere ist das ein sehr geglücktes Comeback, das Fans mehr als zufriedenstellen dürfte.
Jonas ist ähnlich überzeugt:
Das achte Placebo-Album kommt einem Entdeckungsprozess gleich. Einem Wiederfinden alter Kreativität und Freude am Schaffen. Das ist hörbar.
Die zum Duo geschrumpfte Band bestätigt diesen Eindruck. Die ausführliche Pressebeilage zum Album berichtet detailliert davon wie ausgelaugt und lustlos sich Molko und Olsdal nach den letzten Touren fühlten. Wie sie die Lust an kreativen Prozessen dadurch wiedererlangten, dass sie die für eine Albumentstehung gewöhnlichen Schritte umkehrten, mit dem Artwork und den Liedtiteln begannen. Die Songs, die im Anschluss entstanden, werden dieser kreativen Neufindung gerecht. Ursprünglich sollten die bereits im Sommer 2020 erscheinen – auch das legt die Bio nahe. „Never Let Me Go“ also ist eines dieser Alben, die dank der Pandemie noch ruhen und reifen mussten. Oder eben durften – alles eine Frage der Perspektive. Wie viel gute Musik uns verwehrt und wie viel schlechte uns dadurch erspart wurde, bleibt wohl eine der vielen offenen Fragen dieser Zeit, die niemals abschließend beantwortet werden können.
„Never Let Me Go“ aber erscheint. Wenn auch nahezu zwei Jahre später als ursprünglich anvisiert. Die Band nutzte die Zeit, um nachzujustieren. Nach dem faden „Loud Like Love“ war das wohl nötig. „Never Let Me Go“ nämlich ist nicht so verkrampft und deshalb um ein vielfaches besser. Auf bewährte Pop-Muster setzt die Band wenig. Das teilt es sich mit den ganz alten Placebo-Alben aus den 1990ern. Viele der Songs überschreiten daher eine Länge von fünf Minuten. Auch auf Radio-taugliches Material verzichtet die Band, dem Zeitgeist biedert sie sich an keiner Stelle an. Es gibt demnach keine Trap-808s und auch kein Autotune. Dafür dichte Gitarrenwände, weiträumige Synthesizer-Läufe, ekstatische Ausbrüche, herausragende Momente.
„Surrounded By Spies“ beispielsweise ist einer dieser besonderen Songs, er wurde im Vorfeld auch bereits ausgekoppelt. Molko variiert, wiederholt, rhythmisiert dort die immer-selben Zeilen, das Schlagzeug türmt sich währenddessen auf, das Klavier klimpert bedächtig im Hintergrund. Intensiv und laut wird das. Im ähnlich lautstarken Moment von „Sad White Reggae“ stehen Bläser-Sätze anstelle des Klaviers. Es finden sich mehr solcher herausstechender Momente auf diesem Album: Spoken-Word-Einsätze („Went Missing“), eine schwermütige Ballade („This Is What You Wanted“), ein Stück, das sich gänzlich um ein Streicher-Arrangement schmiegt („The Prodigal“), Industrial-Spielchen („Forever Chemicals“), New-Wave („Fix Yourself“). Und natürlich gibt es auch einige Songs, die sich vor zwei Dekaden zum Hit gemausert hätten. „Beautiful James“ ist ein solcher, „Try Better Next Time“ ein anderer.
Auch was seine Texte angeht hat Molko neue Schlagfertigkeit und Dringlichkeit gefunden. Ohne ins parolische abzudriften, geht es vielfach um die ganz großen Fragen des Daseins: Klimakatastrophe hier, psychische Probleme da, technische Megaüberwachung dort. Oft klingen Molkos Worte paranoid, nahezu schizophren, wenn er diese Phänomene besingt. Etwa wenn er zwölf mal aneinanderreiht, dass er von Spionen umgeben sei. Oder aber wenn er die These in den Raum stellt, die Illuminati hätten ihm seine Mutter genommen. Die drastische Wortwahl der Texte jedoch hebt deren Dringlichkeit hervor. „Never Let Me Go“ fühlt sich daher beklemmend an. Bequem war die Kunst Placebos aber ja auch erst in den letzten anderthalb Dekaden geworden. Immerhin beendeten Molko und Co. auch einst das durchweg atmosphärisch-erhabene „Without You I’m Nothing“ mit einem knarzigen Noise-Gewitter. Immerhin war die Band schon immer mehr Goth als Pop, auch wenn sie längst Arenen füllt. Mit ihrem nunmehr achten Album nun jedenfalls finden Placebo zurück zu dieser Energie alter Tage. Eine Wiedergeburt.
Hier (physisch) und hier (digital) kannst du dir das Album kaufen.*
Hier gibt es Tickets für die kommende Tour.*
Mehr Placebo gibt es hier.
Und so hört sich das an:
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Placebo live 2022:
01.10. – Frankfurt, Festhalle
04.10. – Stuttgart, Schleyerhalle
06.10. – Berlin, Mercedes-Benz Arena
22.10. – Hamburg, Barclays Arena
26.10. – München, Olympiahalle
07.11. – Köln, Lanxess Arena
Die Rechte fürs Cover liegen bei SO RECORDINGS/ROUGH TRADE.
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