Rammstein sind mit einer neuen LP draußen. Das hätte man durchaus verschlafen können. 2022 scheint alles ein wenig anders zu sein. Hat Corona auch das Monster-Sextett irgendwie nachhaltig beeinflusst? Noch nie gab es so wenig Wirbel um die größte deutsche Band. Ist etwa eine andere Zeit angebrochen?
Zeit ist unumgänglich ein Mittelpunkt in jedem Leben geworden. Für die einen stand sie gefühlt still, andere nahmen sie nicht mehr wahr, wiederum andere sprechen von zwei verlorenen Jahren eines wertvollen Lebens. Rammstein hatten ebenfalls ihre Zeit anderweitig verplant und mussten umsatteln. Statt Touren also Studio – und ein erneuter Blick, wo man sich gerade befindet, wo man noch hinmöchte… viel mehr: Ob man überhaupt noch möchte.
Die knapp zehnjährige Pause zwischen “Liebe ist für alle da” (2009) und dem selftitled Longplayer (2019) sorgte wiederholt nicht nur für Gerüchte, dass Till und seine Männerschar fortan musikalisch getrennte Wege gehen werden – sogar seitens der Band wurde dies einige Male angerissen. Seit 2019 mag das eindeutig anders wirken, dennoch ist mit dem überraschend schnell nachgeschobenen Zeit genau dieser Abschied erneut verwirrend fix in den Fokus gerückt.
Es lohnt sich, 44 Minuten lang, aufgeteilt auf elf Tracks, zuzuhören. Ein großes Fass voller Ambivalenzen. Man hat mit Sicherheit jeden Song in einer ähnlichen Form schon mal gehört. Die Liste, die man anfertigen könnte, an welchen anderen Titel der Band man sich in diesem oder jenem Moment erinnert fühlt, wäre lang. Von jeglicher Innovation muss man sich zumindest musikalisch verabschieden. Wenn man sie denn erwartet. Muss eine Band, deren Erfolgskonzept seit fast drei Dekaden funktioniert und kein Ende in Sicht scheint, überhaupt angepasst werden? Oder muss man nur solide unterhalten?
Beantwortet man die letzte Frage für sich selbst mit einem “Ja”, dürfte Zeit sogar das bessere “Rammstein” sein. Erneut ist die Produktion fantastisch gelungen, sorgt für Fans der Elektronik genauso für Herzbeben wie für die Streicheranhimmler*innen. Auch das zweifelsfrei sehr breite Publikum dürfte mit der Hitdichte, den durchschlagenden Hooks, dem Ohrwurmfaktor sehr zufrieden sein.
Till ist gesanglich ein gereifter Rotwein. Zwischen tiefberührenden Melodiebögen, basslastigem Gruselwisper, fast schon gegen die Wand drückendem Shouting und psychotischem Wahn ist die gesamte Palette dabei, was einfach saugut kommt.
Andererseits macht das Album einen ärgerlichen Fehler: Es verspricht zunächst, ein Konzeptalbum zu sein und ist es am Ende dann doch wieder nicht. Der schlichtweg sensationelle Einstieg hält sogar gleich drei Songs lang an. “Armee der Tristen”, “Zeit” und “Schwarz” malen ein Post-Corona-Bild, wie es viele innerhalb von Sekunden spüren werden. Ein Bild aus Einsamkeit, noch nicht ganz verlorener Hoffnung, Leere, einer klar erkennbaren Veränderung, einem Einschnitt und der Abhängigkeit von Gesellschaft. Mit dem Titeltrack haben Rammstein sogar ein Meisterwerk geschaffen, eines ihrer besten Outputs von sehr vielen sehr guten Outputs. Lyrisch, melodiös und aufbautechnisch so on point. Das ist Gänsehaut und schon fast schwer auszuhaltende Atmosphäre, die gleichzeitig fesselt.
In gleichem Guss laufen das starke, mitreißende, stampfende Opening und das nicht fröhlicher daherkommende “Schwarz”, sodass beim ersten Durchlauf der Eindruck entsteht, Rammstein liefern jetzt ihr gesamtes auf dem Kern komprimierte Oeuvre in einer Dreiviertelstunde, die man hören möchte, wenn die Welt ihre letzten Minuten einläutet. Doch dann verliert man sich und liefert stattdessen – so wie es der Vorgänger auf Albumlänge tat – Best-of-Material mit zu wenig Überraschung, exakt gar keinem einzigen, wirklichen Schockmoment oder Hauptthemenbezug.
Das ärgert, und zwar extrem. Wird der Bogen nämlich beim Rauswurf “Adieu” erneut gespannt und sich mit Verlustängsten, Depressionen und dem tieftraurigen Gefühl des Alleinseins beschäftigt, ist im gesamten Mittelblock einfach auf Random bei einer Playlist gedrückt worden. Wie schon erwähnt, ist im Sounddesign Zeit von Anfang bis Ende hervorragendes Entertainment und hat einen hohen Wiederhörbarkeitswert, nur verschwendet es so viel Potenzial, um zum wirklichen Überwurf des Jahres oder gar einer ganzen Karriere zu werden.
Stattdessen ist auf textlicher Ebene bis auf wenige Ausnahmen alles so, wie man es zu erraten vermag, wenn man Rammstein kennt. Weiß man, dass “Zick Zack” vom Schönheits-OP-Wahn erzählt, weiß man, was inhaltlich passieren wird. Das ist für eine Band, die eben an anderen Ecken beweist, wie krass sie sind, schlichtweg ein Bauchklatscher. Berechenbar. Darauf getrimmt, irgendwie zu bedienen. Besser macht es besonders auf Aussageebene “Giftig”, das ohne große Aufmerksamkeit als okaye Durchschnittsware vom Laufband fällt, sich mit etwas mehr Konzentration aber als Lied über toxische Beziehungen entpuppt.
Auch “Angst” ist mit seiner beschriebenen Metaphorik hochmodern – wer wohl dieser schwarze Mann sein mag, der uns so nah aufs Fell rückt, uns alle in der Hand hat und Traumata verursachen kann? “Lügen” berichtet davon, wie oft Ausreden gesucht werden und man sich final in erster Linie selbst dabei verarscht, Dinge nie zu tun, obwohl man es so oft behauptet zu planen. “Dicke Titten” ist der Wir-Brauchen-Noch-Was-Lustiges-Filler, der zwar mit “Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus”-Sample wirklich zum Lachen verführt, aber ansonsten total bananiger, sexistischer Mumpitz ist, von dem Rammstein schon fünfmal zu oft gesungen haben. Wird nur von dem richtig miesen “OK” getoppt, was übrigens für “Ohne Kondom” steht und genauso peinlich ist, wie es anmutet. Da hilft auch ein ironisch besetztes Kirchenchor-Intro nicht.
Neben dem so exzellenten Trio zu Beginn fällt jedoch das mittig platzierte “Meine Tränen” noch äußerst positiv auf. Co-Abhängigkeiten zwischen Kindern und ihren Eltern, Unterwürfigkeit, gar Inzest – alles gar nicht so weit entfernt, wie man zunächst immer vermuten mag und damit erneut ein Schauderaugenblick, der auch musikalisch im schleppenden Tempo bei den Zuhörer*innen ankommt und an “Mutter” erinnert.
Zeit ist ein völlig solides Album mit einigen absoluten Volltreffern, großer Geste, ästhetisch wertvollem Look und einem Klangerlebnis, das ohne Ausfall fruchtet. Nur ist es eben gleichzeitig zu oft wiederholend, nicht konsequent und schlüssig genug und damit just etwas enttäuschend. Hat man diesen Gedanken beendet, merkt man, dass “enttäuschend” ein zu großes Wort ist. Sagen wir, nicht befriedigt.
Ob es nun wirklich Zeit zu gehen ist, zeigt die Zeit. Beide Optionen sind legitim. Rammstein haben unzählige Male sich selbst übertroffen, alles erreicht. Größer wird es nicht mehr. Sollten sie sich dazu entscheiden, ihr Lebenswerk so lange zu präsentieren, bis es niemand mehr hören will, wäre aber auch das in Ordnung. Möge sich jede*r das herausziehen, was ihm*ihr beliebt.
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