Mit ihrem satirischen Biss haben sich die Viagra Boys in Windeseile in Herzen von Kritiker*innen und Fans gleichermaßen gespielt. Dass sie diesen auf ihrem Zweitwerk “Welfare Jazz” noch weiter vertiefen zeigt schon der Albumtitel, der eine Übersetzung des sarkastischen Begriffs für das finanzielle Unterstützungsprogramm für Jazzmusiker aus dem Schwedischen ist. Welchen Stellenwert Jazz im Speziellen und Musik im Allgemeinen in Krisensituationen für die Gesellschaft zu haben scheint, hat sich im vergangenen Jahr sehr deutlich gemacht. Typisch Viagra Boys machen sie aus dieser Ignoranz lieber eine Tugend und verweben die sozialen Missstände in eine düstere Textur, die unter dem Druck von Bass, Synthies und Saxophon aber auch oft genug zur Bewegung aufruft.
Straßenköter mit Tanzschuhen
Mit dem kleinen Finger hielt sich der Sound des Kollektivs auf dem grandiosen Debüt “Street Worms” noch am Rocksaum des Post-Punks fest, auf “Welfare Jazz” haben sie diesen nun auch los gelassen. Zwar ist die schlurfende Schwermut des Genres noch in der grundlegenden Struktur spürbar, doch die Viagra Boys schaufeln sich ihren Weg raus aus jeglichem Genre-Zwinger. Dabei scheinen ihnen geradlinige Hits durchaus zu liegen, wie der Opener “Ain’t Nice” beweist, dessen pulsierender Wutanfall einem Abgesang gegen Klassizismus nachkommt und damit dem Punk-Ethos noch sehr folgsam bleibt. Doch schon hier schrauben sich die altbekannten Saxophone in den Vordergrund und brechen mit dem simplem Instrumentarium des gängigen Punk. Im Albumverlauf führt dies zu äußerst irritierenden Zusammentreffen, die aber wegen des bemerkenswerten Songwritings doch am Ende immer Sinn ergeben. Frontmann Sebastian Murphys räudiger Gestus trifft so in “Creatures” auf düsteren Dark Wave und damit auf die geeignete Fläche für eine Hymne all derer, die am Rande der Gesellschaft leben. Eine Mentalität, die sich auch im schnelleren “Secret Canine Agent” fortsetzt, das Bläser im Synth-Nebel kleine Pirouetten drehen lässt, während die Beats zwar zerfasern, aber dennoch zum Tanzen einladen.
Fäuste recken mit Haltung
Wenn sich die Band interne Abteilung der ausgebildeten Jazz-Musiker ihre Sendezeit in der Jam-Session “6 Shooter” erspielt, könnte das natürlich auch durchaus nach unangenehmen Posertum duften. Aber nicht nur dank des windschiefen Anstrichs klebt auch hier der Staub der Gosse, die Viagra Boys zeigen auch ansonsten eine angenehme Distanzierung vom Macker-Dasein. So dreht sich das Album inhaltlich mit dem eingangs erwähnten Sarkasmus auch mal um toxische Männlichkeit, wie im Hit “Girls & Boys”, zeigt Misogynie die rote Karte und geht auch gegen Rassismus voran. All die Slogan würdigen Lyrics dürfen sich im Vakuum zwischen den Genres an die flirrenden Songbrocken heften, die immer wieder von verzerrten und zerfasernden Interludes ummantelt werden. Dort warten sie auf all die Loser*innen der Welt, bis sie bei Konzerten wieder gemeinsam die Hände gegen all die Missstände heben können. Am besten gleich zur zaghaften Positivität der Hymne “I Feel Alive”, dessen torkelndes Klavier ein paar Extrarunden dreht.
Nach all der Virtuosität, die dem Sextett auch auf ihrem zweiten Album deutlich anzuhören ist, hat sich das Album erstmal ein bisschen Wellness verdient und reitet in “To The Country” nicht ohne Augenzwinkern gen abgelegenen Landstrich. Dort, fernab der Zivilisation und ihrer strukturellen Ungleichheiten zieht dann gar eine gewisse Romantik ein, die mit Amy Taylor von Amyl & The Sniffers eine passende Zweitstimme zum Diskurs hnizufügt. Der eigenen Macken und derer der Gesellschaft durchaus bewusst geht mit “In Spite of Ourselves” ein Album vorbei, mit dem sich die Viagra Boys auf die nächste Stufe zerren. Mit ordentlich Schmutz unter den Fingernägeln, versteht sich.
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