Knapp fünf Jahre nach dem letzten Jennifer-Rostock-Release präsentiert Frontfrau Jennifer Weist unter dem Alias Yaenniver ihre erste Solo-Platte. Diese geht das Thema Songwriting merklich anders an als ihre Hauptband und setzt damit jede Menge Statements – und polarisiert wie gewohnt. Auch bei Julia & Christopher kommt die Platte dabei sehr unterschiedlich gut an.
Christopher ist skeptisch:
Die deutsche Musikszene besitzt gefühlt zwei Genres. Zumindest zwei erfolgreiche. Rap und Pop. Alles daneben ist quasi schon Underground. Doch hin und wieder zeigen manche Künstler*innen dermaßen Biss, dass die Fanbase über Jahre wächst und sogar echte Persönlichkeiten hervorbringt. Jennifer Rostock haben genau dies erfolgreich bewiesen und mit ihrer Frontfrau Jennifer Weist ein Jahrzehnt lang Rückgrat, Durchhaltevermögen und Haltung gezeigt.
Angefangen beim Bundesvision Song Contest 2008, endend bei mehreren ausverkauften Hallen 2018 legte die NDW-Pop-Punk-Electro-Rock-Band dazwischen sechs gelungene Alben an den Tag, die demonstrierten, dass ganz besonders auf lyrischer Ebene Deutschland doch noch das Land der Dichter*innen und Denker*innen ist. Keine leeren Phrasen, stattdessen Metaphorik und Wortakrobatik at it’s very best. Ja, ob man die Musik nun mochte oder nicht – textlich waren Jennifer Rostock einfach mit das Größte, was in den bisher vergangenen 2000ern ging. Fakt. Und wer sich mehrfach öffentlich gegen die AfD, Bild-Zeitung oder Frei.Wild auflehnt, kann auch charakterlich nicht so verkehrt sein, oder?
Doch seit vier Jahren ist kreative Pause. Alle mögen ein wenig durchatmen, sich in anderen Projekten austoben und den permanenten Studio-Bühne-Studio-Bühne-
„Nackt“ sind 13 Songs, die beweisen sollen, dass Yaenniver auch anders kann. Und ja, zugegeben – das Ergebnis ist anders. Das Stärkste an dem Debütalbum der 35-jährigen Ikone (doch, das kann man schon so sagen) ist seine Heterogenität. Yaenniver greift tief in die Abwechslungskiste und langweilt im Sound zu keiner Sekunde. Besonders in der Produktion klingt „Nackt“ ziemlich gelungen, reißt mit und groovt. Dass die Gute stimmlich voll was drauf hat, ist ebenso gebongt.
Doch leider ist das eben nicht alles. Denn ohne abwertend klingen zu wollen: Wie kann das sein, dass eine Frau, die zehn Jahre lang, lyrisch mit ihrer Band so vorbildlich und klug abgeliefert hat, nun so eindimensionalen Mist bringt? Harte Worte, stimmt. Aber auch eine Jennifer Weist kann ihre Vergangenheit nicht komplett abstreifen. Gerade, wenn man auf Textebene vorzüglich und herausragend gearbeitet hat, kann man nun doch nicht Rückschritte machen, die die Länge von einem Flug auf einen anderen Kontinent haben.
„Nackt“ ist kein Totalausfall, aber leider in seiner Kernkompetenz wirklich Teenagerniveau. Die Hälfte der Songs drehen sich inhaltlich um Drogenkonsum, Promiskuität und das Darauf-Scheißen von anderen Meinungen. Selbst die miserabelsten Jennifer-Rostock-Tracks hatten mehr Aussage. Erneuter Fakt. Ein „Finger auf die Lippen“ klingt in seiner Melodie, seinem Gesang, ganz besonders in den Background-Vocals und im Beat richtig gut und ist beim genauen Zuhören ultra fremdschämig. „Kifferin“ oder „Sag deiner Freundin“ sollen selbstsicher und cool wirken und sind dabei schrecklich pubertär. „Energie“, „Ich ficke jeden“ und „Allergisch“ sind sogar in jeder Facette Vollkatastrophen. Dass Jennifer jemals so schlechte Songs machen würde, hätte wohl kein Fan zu albträumen gewagt.
Auf der anderen Seite sind jedoch einige Tracks dann exakt das, was man möchte. Bei dem mit derb-knallenden Beats unterlegten „Intro“ wurde zwar ein wenig zu stark in Richtung SXTN geschielt, dafür flowt Yaenniver aber so, wie sie es auch schon als „Hengstin“ gemacht hat. „For Real“ mit Sway Clarke wiederum setzt zwar nicht auf Komposition, fesselt aber im spannenden Storytelling und Wortwechsel zwischen beiden Protagonist*innen und löst Kopfkino aus. „Halb so ich“ ist der beste Ohrwurm der Platte. Zwar nicht die progressivste Aussage, die man 2022 treffen kann, dafür aber einfach ein straighter Pop-Song mit Hitpotenzial. „Mädchen Mädchen“ gräbt die totgeglaubte Luci van Org von Lucilectric aus und nutzt ihren 90s-Überhit „Mädchen“ als Sample, um auf viel zu gruselige Missstände von jungen Frauen beim Feiern hinzuweisen. Das ist es, was man doch eigentlich von Frau Weist erwartet hat, oder? Und was ein Zufall: „Halb so ich“ und „Mädchen Mädchen“ listen als Co-Autor*innen ihren alten Bandkollegen Joe Walter auf. Aha, da liegt der Hase also im Pfeffer. Das Mastermind ist eben nicht immer die Person, die am lautesten schreit.
Zum Ende hat aber auch Yaenniver wohl verstanden, dass man mit Mitte 30 nicht nur über Themen für 16-jährige Kids singen sollte, sondern ein wenig Deepness das ist, wofür viele ihrer Fans sie immer feierten. „Seebrücke“, „Ich setz dir ein Zeichen“ und „Outro“ sind ein zwar nicht total gelungenes, aber zumindest akzeptables Trio an nachdenklichen Momenten, die Jennifer auch gesanglich solide vorträgt. Sie kann, wenn sie will. Aber anscheinend will sie halt auch ganz viel, was sonst keine*r will.
„Nackt“ ist schwierig. Generell sollte Mut belohnt werden. Jedoch benötigt es ebenso stimmige Ideen. Gerne darf die talentierte Jennifer Weist sich auf ihrem Soloalbum austoben. Gleichzeitig trübt die Peinlichkeit und Plakativität auf zu vielen Tracks aber das große Können von Jennifer Rostock und zwackt dem Ganzen eine gehörige Portion Authentizität ab. War die Gute wirklich nur das Sprachrohr von Joe? Holt sie gerade irgendetwas Verpasstes nach? Sucht man sich jedoch die vier bis fünf netten Titel raus, wirkt die Unterbrechung bis zur Rückkehr von Jennifer Rostock ein bisschen weniger verschlimmbessert.
Julia hingegen findet:
Gerade bei Sänger*innen sind Solo-Alben eine oftmals etwas dröge Geschichte. Alle kennen die Stimmen bereits zur Genüge und auf Grund des starken Fokus auf die Person am Mikro im Band-Kontext erwartet Fans auch keine neue Bezugsperson. Gerade bei Jennifer Weist, der Frontfrau von Jennifer Rostock, ist diese Zuschreibung sehr amüsant. Zum einen, weil die Öffentlichkeit die Hauptband häufig fälschlicherweise als reines Solo-Projekt sah, zum anderen, weil die Band alle Songs in enger Teamarbeit geschrieben hat. Eine Platte nur von Jennifer ist also für Fans eine spannende neue Perspektive, für alle anderen verwirrend.
Doch nun genug von der Vergangenheit. In der mittlerweile fast vier Jahre andauernden Pause der Band ist Weist zum richtigen Tausendsassa mutiert und präsentiert nun nach Moderationsjobs und Klamottenmarken auch ein erstes eigenes Album. Kann das was?
„Nackt“ bekommt als Titel schonmal eine glatte 10/10. Denn inhaltlich geht es dem Motiv gleich von verschiedenen Seiten an den Kragen: Zum einen gibt es einige sexuell sehr explizite Songs, zum anderen aber auch Seelenstriptease. On top strahlen ein paar feministische Empowerment-Tracks über die Platte, die den Endgegner-Stereotyp der nackten Frau als reines Objekt ausknocken. Ein Rundumschlag, der sitzt?
Jein. Fangen wir mal mit dem Negativen an. Wer ein Solo-Debüt einer bereits bekannten Künstlerin hört, vergleicht. Und da fällt die doch etwas schwache Wortwitz-Kapazität von „Nackt“ schnell auf. Gerade im Sprechgesang wäre da eigentlich genügend Platz für mehr Austoben auf der Spielwiese der deutschen Sprache drin gewesen. Schade, aber auch kein Beinbruch.
Gerade im Punkto Sound ist „Nackt“ dafür wirklich eine Freude. So prallen lässige Deutschrap-Momente („Intro“), moderner Schlager-Pop („Halb so ich“) oder auch explosiv-böse Beats („Energie“) aufeinander. Gerade die vielseitigen Synthesizer und Beats, für die Weist Unterstützung von den Grossstadtgeflüster-Lieblingen bekommen hat, können hier hervorgehoben werden. Den 13 Tracks kann man mangelnde Diversität in diesem Kontext schonmal nicht vorwerfen.
Doch „Nackt“ schreit danach, auch inhaltlich betrachtet zu werden, wo Weist als Privatperson über Social Media hinaus Bekanntheit erlangte und für ihre starken und provokanten Statements steht. Provokant wollen auch Tracks wie „Ich ficke jeden“, „Finger auf die Lippen“ und „Sag deiner Freundin“ sein, die sehr offen über sexuelle Praktiken sprechen. Das schockt nach Katja Krasavice und Shirin David auch in Deutschland nur noch die Boomer, ist dafür aber lässig vorgetragen und passt zu Yaennivers Attitüde. „Sag deiner Freundin“ bringt zudem das Thema einvernehmliche Polygamie auf den Tisch, was bisher in der deutschen Musiklandschaft noch eher Mangelware ist.
Sex-Positivismus auf der einen Seite, Empowerment auf der anderen. „Mädchen Mädchen“ packt die Problematiken von Frauen beim Feiern luftdicht und hittig ein, „Allergie“ schafft die sprachlich schönste Analogie zwischen gängigen Allergien und solchen gegen die Gender Pay Gap oder Abtreibungsgegner*innen vor düsterem Brodeln und „Ich setz dir ein Zeichen“ ist schlicht tolles FLINTA-Zusammenrücken. Nimm das, Ellbogenkampf des Patriarchats!
Zu guter Letzt stehen auch persönliche Momente auf dem Plan, die gerade am Ende überzeugen. „Halb so ich“ kann man mit etwas Kitsch-Resistenz auch feiern, „Seebrücke“ und „Outro“ sind hingegen sehr emotionale Bekenntnisse mit Sprechgesang und dezenten Beats für die dunklen Stunden.
Natürlich wirken Tracks wie „Kifferin“ etwas sehr plump und „For Real“ klingt dermaßen nach 90s, dass man nicht mehr weiß, ob das jetzt wieder in ist oder wir alle sehr alt geworden sind. Yaenniver gelingt mit „Nackt“ aber die deutliche Emanzipation von den Erwartungshaltungen und zeigt sich so reiberisch und unangepasst, wie man es sich gewünscht hat. Beim nächsten Mal dann gerne mit noch mehr Tiefgang.
Das Album “Nackt” kannst du hier (Vinyl) oder hier (digital) kaufen. *
Und so hört sich das an:
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Yaenniver live 2022
- 14.03.2022 Alter Schlachthof Dresden
- 15.03.2022 Musikzentrum Hannover
- 17.03.2022 Mojo Hamburg
- 18.03.2022 Zoom Frankfurt
- 20.03.2022 Kantine Köln
- 21.03.2022 SimmCity Wien (AT)
- 23.03.2022 Freiheitshalle München
- 24.03.2022 Täubchenthal Leipzig
- 25.03.2022 Metropol Berlin
Rechte am Albumcover liegen bei Sony.
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