So, genug geschlemmt, genug rumgehangen, 2023 ruft. Ab in die Konzert- und Theaterhäuser, denn da warten schon direkt in KW1 die ersten Highlights des Jahres: Ballet Revolución gastiert nach fast fünf Jahren Abstinenz wieder in Dortmund.
Ja, ok. Ballett trifft mit Sicherheit nicht jeden Gusto. Doch hin und wieder sollte man über den Tellerrand hinausschauen, um sich auch mal selbst zu überraschen, denn die aus Kuba stammende Show hat mit dem Klischeebild einer Ballettaufführung wirklich nur wenig gemein. Das ist oftmals ziemlich gut, manchmal aber auch an manchen Stellen ein wenig ausbaufähig.
Gleich zwölf Städte sind’s. Bremen und Mannheim hatten bereits zwischen den Jahren das Vergnügen, das Dortmunder Konzerthaus eröffnet dafür die 2023-Saison, die sich noch bis Ende Juli ziehen wird. Berlin, Düsseldorf, Duisburg, Stuttgart, München, Köln, Frankfurt am Main, Hannover und unsere Schweizer-Nachbar*innen aus Basel: Googelt die Termine. Rechtzeitiges einplanen lohnt, ist die Show nämlich überall nur für maximal sechs Tage vor Ort.
3.1., ein Dienstag. Erste Aufführung in Dortmund. Das stets schicke Konzerthaus ist im Parkett bis auf wenige Ausnahmen randvoll. Der erste Rang ist gut zur Hälfte besetzt, in den oberen Rängen ist es leer. Das Publikum ist geschätzt fast durchweg über 50, manche haben aber auch ihre kleineren und größeren Kinder mit dabei. Gut gelaunt sind alle gleichermaßen, da der Applaus bei vielen einzelnen Szenen und ganz besonders zum Abschluss äußerst groß ausfällt. Auch vorm Jubeln macht Dortmund nicht halt, genauso wenig vorm frenetischen Aufspringen von den Sitzen, wenn die Tänzer*innen sich verbeugen.
Erst 55 Minuten, dann fast 60 Minuten verläuft Ballet Revolución ohne große Unterbrechungen. Sehr gute Entscheidung: Keinerlei Anmoderationen. Lediglich am Ende wird sich einmal bedankt, ansonsten sprechen Musik, Schritte sowie Gestik und Mimik die gesuchten Worte. 19 Personen tanzen, darunter 13 männlich und sechs weiblich gelesene. Bis aufs Finale sind oft nur einzelne Tänzer*innen oder Kleingruppen zu sehen, sodass man zunächst im positiven Sinne den Überblick verliert. Wie viele sind es denn noch? Sehr gut hingegen hat man eine weitere Gruppe an Menschen im Blick, die man beim Ballett wohl gar nicht erwartet: Eine fünfköpfige Band und zwei Sänger*innen.
In Ballet Revolución steckt unverkennbar das Wort Revolution. Ein großer Begriff, bei dem man als Zuschauer*in durchaus Untypisches erwarten darf. Das geht in vielen Teilen auch gut auf. Ballett bildet für fast alle Choreographien die Basis, Topics sind Elemente aus dem Modern Jazz, Streetdance, Breakdance und eine ordentliche Portion Contemporary. Eine wirklich gut gewählte Mische, da ein Großteil der Schritte wohl bei vielen Zuschauer*innen zu Knochenbrüchen führen würde, und das, was man nicht so schnell nachmachen kann, einfach immer beeindruckt.
Genau ein einziges Mal ist ein Fehler seitens eines Tänzers zu sehen. Beim Aufkommen kippt er leicht zur Seite und muss sich schnell abstützen. Die restlichen rund 115 Minuten laufen äußerst leichtfüßig, smooth, sehr fein und geschmeidig ab. Selten haben Ausführungen richtige Power und erschlagen, alles wird zart und fliegend präsentiert. Einige haben ihr Talent eindeutig im Ballett, andere sind akrobatisch und schlagen Flickflacks sowie Saltos. Die Choreos sitzen bei allen, nur die Synchronität ist nicht ganz das, was man erwartet. Da springt die eine Person höher oder auch mal eine Sekunde früher, andere stehen nicht gezielt in einer Reihe. Je voller das Bühnenbild, desto mehr fällt auf, dass es sich doch eher um eine Show für Individualist*innen handelt. Gerade in den Nummern, bei denen viel Soli oder maximal im Trio getanzt wird, ist die klare Stärke von Ballet Revolución erkennbar.
Die Band und ihre zwei Sänger*innen sind ein Aushängeschild. Im ersten Akt spielt der Perkussionist ein wirklich sensationelles Conga-Solo. Aber auch die Instrumentalist*innen an den Drums, Keys, Bass und Gitarre leisten gute Arbeit, die dazu vom Konzerthaus vorzüglich abgenommen wird. Der eigentliche Star der Truppe ist jedoch Janine Johnson, die trotz unterschiedlicher musikalischer Stile mit ihrem Gesang richtig raushaut.
Unterschiedliche musikalische Stile ist ein wichtiges Stichwort. Womöglich ist das, was man sich zunächst unter Ballet Revolución vorstellt und auch die ersten guten 20 Minuten serviert bekommt, nämlich nicht das, was man am Ende mitnimmt. Der Einstieg zu Camila Cabellos “Havana” und auch die darauffolgenden Instrumentalstücke sowie Shakiras “Chantaje” entführen einen unmittelbar nach Kuba – man bleibt jedoch nicht dort. Im Laufe der Show nimmt der Popanteil erheblich zu. Adele, Usher, Ed Sheeran & Justin Bieber, Lady Gaga & Bradley Cooper, Dua Lipa, Hozier, Rag’n’Bone Man, Coldplay und Prince haben dann mit dem zunächst stimmig aufgebauten Flair nicht mehr so viel am Hut.
Man möchte eben sehr viel. Besonders ein breites Publikum abholen. “DJ Got Us Fallin’ In Love” macht ziemlichen Lärm, ebenso die Zugabe “Can’t Stop The Feeling” von Justin Timberlake. Intime zwischenmenschliche Beziehungskrisen werden in “Hello” und “Shallow” äußerst treffsicher dargestellt und passen super. Bei “Purple Rain” von Prince gibt es ein wahnsinnig gelenkiges Solo a la “Tanz um dein Leben”. Sehr vieles davon ist wirklich hochkarätig, nur eben ein wenig konzeptfrei. Gerade in der zweiten Hälfte gibt es kein einziges Mal mehr den Karibikkurzurlaub, sondern Gassenhauer. Auch in Ordnung, nur halt anders.
Ein wenig schade ist des Weiteren, dass die Band nicht alles 100 Prozent live spielt. Bei “Hello” von Adele hört man mehrfach eingespielte Chöre, bei anderen Songs sind Soundeffekte und Beats beigemischt. Natürlich kann man zu siebt nicht den fettesten Klang kreieren, aber sämtliche Leute sind so talentiert, dass es absolut ausreichen würde, nur auf die Fähigkeiten zu bauen, die man live bieten kann. Würde völlig reichen. Top Beispiel dafür: Eine freie Interpretation von “Roxanne” (The Police) mit Bachata-Atmosphäre. Licht und Requisite runden den Eindruck so ab, dass man immer das Gefühl hat, genau das sehen zu müssen, was man braucht. Schön.
Bei den Tänzen sticht ins Auge, dass flüssig zwischen Männer-Frauen-, Frauen-Frauen- und Männer-Männer-Konstellationen geswitcht wird. Sehr löblich. Zusätzlich spart sich fast die gesamte Show anrüchige Elemente. Keine chauvinistischen Klatscher auf den Po, wenig stark aufreizende Kleidung. Stil hat Vorrang, so soll’s sein. Ok, natürlich muss es einfach eine Männernummer geben, bei der alle oberkörperfrei auftreten. Völlig unnötig, aber anscheinend geht es einfach nicht ohne.
Ballet Revolución ist gute und kurzweilige Unterhaltung. Die Akteur*innen haben alle zweifellos Freude, sind super konzentriert und bieten anspruchsvolle Choreographien. Ein bisschen mehr Schärfe und Perfektionismus in der Synchronität wäre angebracht, um das Ganze auf das nächste Level zu bringen. Die Musik ist etwas willkürlich und selten Latin, dafür aber eben jede*r bekannt. Menschen mit Vorliebe für Konzepte kommen nicht richtig auf ihre Kosten, Menschen mit Vorliebe für Tanz aber auf jeden Fall.
Und so sieht das aus:
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Bild von Christopher
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