Tecklenburg 2022, die Zweite. Strenggenommen sogar die Dritte. Immerhin läutet Der Besuch der alten Dame die dritte und damit letzte Inszenierung im diesjährigen Sommerprogramm der schönsten Freilichtbühne des Bundeslandes ein. Bei dem Openingstück Der Zauberer von Oz handelt es sich allerdings um ein Kindermusical, was somit eine etwas andere Zielgruppe anspricht. Über Sister Act berichteten wir bereits vor einigen Wochen und gaben auch einiges an Hintergrundinfos zur Venue.
Deswegen überspringen wir diesen Teil ein wenig. Tecklenburg hat in den zwei Jahren Pause nichts verlernt. Mag zwar nicht jede Vorstellung bis auf den letzten Platz ausverkauft sein, kommen aber dennoch so viele nach Kultur lechzende Zuschauer*innen zusammen, die seit zwei Jahren auf ihr Stück warten – teilweise sogar seit zwei Jahren auch ihre Tickets besitzen. Denn das, was 2020 auf der Agenda stand, steht eben nun 2022 genauso auf der Agenda und kann auch endlich umgesetzt werden. Das ist einer so schönen Theaterbühne, die selbst bei Ticketpreisen von gerade einmal 50€ stets enorm hohe Qualität liefert, von Herzen zu gönnen.
Ist das seit einem Monat laufende Sister Act schon beim bloßen Namen ein Publikumsmagnet, hat es Der Besuch der alten Dame erwartungsgemäß etwas schwieriger. Die Vorlage von Friedrich Dürrenmatt aus den 50ern verspricht schwere, verworrene, skurrile Kost, bei der sowieso schon einige im Vorhinein aussteigen. Zusätzlich lief die 2013 uraufgeführte Musicaladaption bisher nur in der Schweiz und in Österreich. Musical-Supernerds freuen sich demnach umso mehr auf eine Deutschlandpremiere, alle anderen sind aber noch ein wenig skeptisch.
Aber letztendlich zahlt sich Mut zu unbekannten Stücken und generell auch die fehlende Angst vor Stücken mit einer gewissen Schwere voll aus – tatsächlich ist Der Besuch der alten Dame das beste Musical, das man seit dem sensationellen Rebecca aus 2017 auf der Freilichtbühne Tecklenburg sehen kann.
Lässt sich beides im Übrigen auch generell gut vergleichen. Zwar lief Rebecca zuvor schon in Stuttgart, bevor es vor fünf Jahren nach NRW kam, aber leider bleibt völlig unbegründet der ganz große Hype um das Sylvester Levay– und Michael Kunze-Meisterwerk – ja, das sind die zwei Typen von Elisabeth und Mozart – bis heute aus. Eine Schande. Und auch Der Besuch der alten Dame wird mit großer Sicherheit ein Geheimtipp unter den Verrückten bleiben, die für ihre Lieblingsmusicals, an die sich ein Stage Entertainment eh nicht wagen wird, hunderte Kilometer fahren. Außerdem besitzen beide Storys mehrere Jahrzehnte alte, sehr erfolgreiche Vorlagen, die voller Mystik, Rache, Zorn, Wut, Angst und unerfüllter Liebe getränkt sind.
Eine so schon stimmige Kombination, die aber noch einmal runder wird, weil man sich eben auf der etablierten Bühne Tecklenburgs befindet. Da sagen dann in dem vermeidlichen Sommerloch Topgrößen wie Thomas Borchert als männliche Hauptfigur Alfred III. und Masha Karell als die alte Dame Claire Zachanassian zu – der eine spielte quasi jede wichtige Rolle der Musicalgeschichte im deutschsprachigen Raum, die andere war schon in der Wiener Inszenierung mit dabei. Obendrauf gibt es im Stück eine Cast von rund 50 (!) Darsteller*innern und ein dickes Liveorchester. Klotzen statt kleckern. Genau diese Ambition und Motivation, dieser Elan und dieses Händchen, bei dem Können im Vordergrund steht und nicht der bestmögliche Umsatz, sind in Der Besuch der alten Dame zu spüren und machen das Musical zu einem wahren Highlight im gesamten Jahr 2022.
Um trotzdem den Interessierten das Ganze ein wenig greifbarer zu machen: Die verarmte Stadt Güllen kommt kaum noch zurecht. Alles ist eingefahren, jede*r Bewohner*in nahezu bankrott. Da kommt Besuch von der Milliardärin Claire Zachanassian gerade recht, die in dem Dörfchen ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Alles wird vorbereitet, damit eventuell ein paar Almosen für Güllen herumspringen – die Spende ist allerdings mehr als nur großzügig. Zwei Milliarden möchte die alte Dame springen lassen, die sämtliche Bewohner*innen untereinander aufteilen dürfen. Allerdings nur, wenn ihr ehemaliger Geliebter Alfred sterben wird. Der führt in Güllen mit seiner Frau und seinen zwei Kindern ein halbwegs zufriedenstellendes Leben. Noch.
Eine Kombination aus Thriller, Satire, Romanze und Tragikomödie beginnt. Philosophische Fragen: Wie viel kostet Moral? Wie stark ist ein Gruppenzwang? Was darf ich mir für Geld kaufen? Welchen Stellenwert hat Geld, welchen hat Zugehörigkeit, welchen hat Solidarität? Das 140 Minuten lange Stück, aufgeteilt in einem 75-minütigen ersten und einem 65-minütigen zweiten Akt, ist in keinem Moment langatmig oder läuft im Leerlauf. Stattdessen bleibt permanent eine Spannung im Raum, die fesselt. Zwar ist die Stimmung nicht durchgehend zum Zerbersten hitzig, aber unbequem. Zwischendrin wird’s traurig, ja, auch mal albern und etwas drüber – aber das macht es aus. Viel mehr Musiktheater als Klischeebüchse.
Der von Dürrenmatt geschriebene Dreiakter, der nicht selten auch Schullektüre ist, wurde von Christian Struppeck adaptiert. Moritz Schneider und Michael Reed komponierten die Musik, Wolfgang Hofer fungierte als Liedtexter. Besonders in den tollen, äußerst anspruchsvoll zu singenden Songs wurde Arbeit gesteckt, die nicht selten an Levay/Kunze erinnert, was aber als Kompliment verstanden werden darf. Große, mitreißende Titel wie die klassisch-angehauchten Soli “Gerechtigkeit” und “Die Welt gehört mir” der alten Dame drücken das Publikum gegen die Wand, auch wenn Masha Karell leider ein wenig angeschlagen klingt. Ist sie im Schauspiel wirklich hervorragend, tut sie sich in den Belting-Parts schwer, sodass ihre Stimme an drei oder vier Stellen überschlägt oder bricht.
Umso intensiver sind die Momente, in denen Thomas Borchert ganz für sich steht. Sein Solo “Ich hab die Angst besiegt” ist Gesangsperfektion und sorgt völlig zurecht für den größten Beifall vor dem Schlussapplaus. Auch der als Lehrer besetzte Alexander di Capri hat Momente, die im Kopf bleiben. Ebenso erwähnenswert sind Katja Bischoff und Fabio Diso, die Alfred und Claire als junges Paar spielen. In den Szenen, in denen Alt auf Jung trifft, sollten der Blick und das Ohr keine Sekunde abschweifen. Am schwersten hat es das Bodyguard-Duo rund um die alte Dame. Das wäre nämlich eigentlich ein Trio, muss aber kurz vor Showbeginn am Nachmittag Corona-bedingt dezimiert werden. Bevor das Stück losgeht, informiert die Freilichtbühne darüber, dass es kleinere Umbesetzungen gibt. Die Premiere am Tag zuvor lief noch tadellos, nun muss man schon bei der zweiten Aufführung spontan umrangieren. Fällt allerdings überhaupt nicht ins Gewicht. Etwas schade: Die Tontechnik setzt einige Male verspätet ein und hat nicht immer den Dreh raus. Aber es sind noch ein paar Runden zum Verbessern drin.
Bleibt final nur zu sagen: 17 Vorstellungen sind insgesamt geplant. Am 9.9. fällt der letzte Vorhang. Wer es bis dahin nicht gesehen hat, ist selbst schuld. Der Besuch der alten Dame ist eines der Musicals, über die nicht jede*r sprechen wird – die, die es aber tun, werden in den höchsten Tönen davon schwärmen. Und das ist genau richtig so.
Und so hört sich das an (Aufnahme von der Wiener-Inszenierung):
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Bild von Christopher.
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