Ein wenig Farbe, Club im Capitol Theater Düsseldorf, 14.09.2024

ein wenig farbe schlussapplaus düsseldorf

Dass besonders die meisten männlichen Musicaldarsteller*innen der queeren Community angehören, ist kein Geheimnis. Schließlich fühlen sich eben jene Menschen oft in den künstlerischen Berufen besser angenommen, verstanden und akzeptiert, besitzen andererseits aber auch oft eine blühende Kreativität. Wie kommt es, dass es dann bisher dermaßen wenig Musicals gibt, die sich thematisch um queere Leben drehen? Ist es tatsächlich mal wieder ein wirtschaftlicher Faktor? Angst davor, dass sich das Stück am Ende nicht gut genug verkauft? Rory Six, selbst schwul, schon ewig Darsteller, gleichzeitig aber auch Komponist und Veranstalter, widmet sich in einem von ihm selbst geschriebenen Musical überraschenderweise nicht homo- oder bisexuellen Männern, auch wenn er dazu wohl viel sagen könnte. In Ein wenig Farbe ist eine Transfrau die Hauptfigur – und das gibt es erstmalig in NRW zu sehen.

Die meisten Musicalfans, die seit November zum Capitol Theater nach Düsseldorf pilgern, gehen wohl eher mit durchwachsenen Gefühlen nach Hause. “Abenteuerland” mit den Hits von Pur ist wirklich alles andere als ein Überflieger. Dennoch ist das Theater in der Landeshauptstadt am Samstagabend, dem 14.9., wieder gut gefüllt. Nur eine halbe Stunde nach dem Start der Show, die laut aktueller Erkenntnis Ende Februar das letzte Mal laufen soll, beginnt aber in derselben Location, logischerweise aber nicht im selben Raum, parallel eine zweite Band zu spielen. Rund 400 Plätze stehen im Club zur Verfügung, nahezu alle sind um 20 Uhr besetzt. Zwei Minuten danach wird es dunkel…

…und wahnsinnig intim. Rory Six begrüßt viele Gäste an der Eingangstür, ist er nämlich auch hier bei der besonderen, einmaligen Aufführung der Veranstalter. Der in Belgien geborene Wahl-Wiener hat im letzten Jahr seinen 40. Geburtstag gefeiert. Viele haben ihn womöglich mal in “Les Misérables”, “Elisabeth” oder “Cats” als Darsteller gesehen, heute hingegen sitzt er am E-Piano, ist die musikalische Leitung des Trios, das neben ihm Platz nimmt – bestehend aus Geige, Cello und Gitarre – und zeigt in zunächst 50, dann in 45 Minuten ein komplett von ihm kreiertes Musical. Komposition, Songtexte, Libretto – alles handmade. Er hatte eines Tags eine Idee im Kopf, hat recherchiert und ist schließlich auf Sophie Giller gestoßen. Eine Transfrau, die er über gemeinsame Kontakte gefunden hat. Die hat ihm viel erzählt, sodass am Ende Ein wenig Farbe entstanden ist.

Ein wenig Farbe feierte 2018 seine Uraufführung. Entwickelt hat Rory Six das Stück eng mit seiner gewünschten Besetzung, nämlich Pia Douwes. Die Grande Dame des Musiktheaters, selbst unvergleichlich gewesen in “Elisabeth”, “Rebecca” oder auch in Six´ anderem Stück “Wenn Rosenblätter fallen”, ist für das untypische Werk sofort Feuer und Flamme. Gemeinsam arbeiten sie die Geschichte rund um Helena aus. Helena, geboren als Klaus, ist ungefähr 50, hat zwei Söhne im Studierendenalter und eine recht gut funktionierende Ehe. Die ist zumindest auf Beziehungsebene gar nicht das Problem – das Problem ist Klaus selbst. Schon als Kind liebt er es, die Kleider seiner Mutter anzuziehen, sich zu schminken und erwischt sich in der Pubertät selbst dabei, anderen Jungs aus der Klasse hinterherzuschauen. Er traut sich allerdings nicht, sich zu outen. Die Zeiten, aber auch die privaten Umstände lassen es nicht zu. Doch irgendwann wagt er es, egal, welche Konsequenzen dies mit sich trägt.

Das Musical setzt in der Nacht vor der großen, geschlechtsangleichenden OP an. Helena ist nervös, kann nicht schlafen und verbringt die letzten Stunden davor bei einer Krankenschwester. Sie reflektiert ihr Leben, geht alle wichtigen Stationen durch, die zu ihrem jetzigen Ich führten. Dabei lässt sie auch die Gedanken und Handlungen von anderen Menschen einfließen. Genauer gesagt von zwölf anderen. Darunter ist natürlich die Ehefrau, einer der Söhne, ehemalige Vorgesetzte auf der Arbeit, ein Therapeut, eine äußerst schräge Schulfreundin, eine Drag Queen und noch einige mehr. In dem Monolog von Six werden sie alle von eine*r Darsteller*in gespielt.

Nachdem Pia Douwes für ihre Darstellung in den höchsten Tönen gelobt wurde und es seit mehreren Jahren bereits eine DVD-Aufzeichnung von einer Vorstellung in Wien gibt, haben sich gar nicht so viele getraut. Generell lief Ein wenig Farbe bisher erst äußerst selten und nur an wenigen Theatern. Das liegt mit Sicherheit an der Thematik, die von familienfreundlichen Hochglanzmusicals wie einem “Abenteuerland” oder diversen Stage-Inszenierungen ziemlich weit weg ist. Gleichzeitig ist das mit der Besetzung aber auch alles andere als einfach. Aktuell hat sich einer der bekanntesten männlichen Musicaldarsteller in die Rolle gewagt: Mark Seibert, seit rund zwei Jahrzehnten einer der meistgebuchten Männer des Business überhaupt, betritt neues Terrain.

In Düsseldorf sieht man ein aufwändigeres Bühnenbild als auf der DVD, aber dennoch ein immer noch schlicht gehaltenes. Eine Regelwand teilt sich in drei Bereiche auf, deutet ein Bett an, besitzt ein paar kleine Requisiten wie einen Bilderrahmen mit dem Foto der Mutter von Helena, einen Sessel und Platz für ein langes, aufgehängtes Abendkleid. Dazwischen fungiert ein Durchgang als eine Art Tür für den Übergang zwischen unterschiedlichen Szenen. Mark Seibert trägt einen Samtschlafanzug und darüber die meiste Zeit einen Bademantel. Seine Haare sind nicht so streng gegelt wie sonst, eher zersaust. Wirkt auf jeden Fall ein wenig wie ein Blick in Seiberts Sonntagmorgen-Optik. Im Hintergrund nimmt Six am Piano sowie seine drei Instrumentalist*innen Platz.

Ab der ersten Sekunde ist der Sound der Instrumente wirklich hervorragend. Nicht zu laut, nicht zu leise hüllen die romantischen, verträumten und eher introvertiert klingenden Töne durch den Capitol-Club. Die Bühne besitzt mehrere leuchtende Bögen in einem ruhigen Blau, sodass auf Anhieb eine intime Atmosphäre entsteht, die dieses Stück auch uneingeschränkt benötigt. Das feste Szenario, das nur durch einige kleinere Requisitenwechsel verändert wird, sorgt für keinerlei Ablenkung und setzt den Fokus auf den einzigen Darsteller, der für rund 95 Minuten Spielzeit in vielen Punkten gut vorbereitet sein muss.

Seibert ist in jedem Falle bereit. Der ordentliche Batzen an Songs, aber auch an gesprochenen Teilen sitzt. Seine kleinen Versprecher kann man an einer Hand abzählen. Wie man es von dem etablierten Star der Szene gewohnt ist, gibt es besonders im Gesang eine starke Vorstellung. Von den lauten Beltingtönen gibt es heute nur wenige, die sind dafür aber alle stark und sehr mittig angesungen. Viel mehr transportieren aber die leisen, mal gesprochenen, mal geflüsterten Noten, die mehrfach ganz zaghaft in der Kopfstimme mit viel Feingefühl ins Headset fließen, um anschließend Ohren und Herz des Publikums zu treffen. Das funktioniert bei jedem Song ohne Einschränkung. Highlights sind die wirklich umwerfend schön und anspruchsvoll komponierten Titel “Ein Wunder passiert”, das sich um die Aufregung vor der OP dreht, aber auch der Titelsong “Ein wenig Farbe”, zu dem Klaus als kleiner Junge erstmalig Make-up, Highheels und Kleider für sich entdeckt. Im Finale “Nie mehr verborgen” gibt es sogar das dramatische, uplifting Lied, mit dem man trotz vorangegangener Schwere, die man über weite Teile des Stücks spürt, lächelnd und – noch viel wichtiger – mit einer unterstützenden, mutmachenden Message nach Hause fährt.

Seitens des Stücks und der Inszenierung bekommt man hier wirklich hervorragende Musicalkost in Kammerspielatmo mit queerer Thematik. Ein Gesamtpaket. Dennoch gibt es aber einige Kritikpunkte, und die haben ausschließlich mit der Besetzung zu tun. Zwar zeigt Mark Seibert endlich mal, dass er mehr Seiten besitzt als die oft arg unsympathische, überhebliche, arrogante und oft auch versexte Rolle des Übermannes wie in “Elisabeth”, “Mozart”, “Rebecca” oder “We Will Rock You” – zum Glück lässt er genau diesen Stil einfach mal zu Hause und zeigt stattdessen viel Fragilität und Angriffsfläche. Jedoch ist er, zumindest wenn man die Inszenierung mit Pia Douwes kennt, schauspielerisch ein paar Level darunter. Leider gelingt es ihm nicht in jeder der 13 Rollen, eigene Akzente zu setzen, sodass man manchmal schon gut eine Minute braucht, um zu erkennen, ob gerade wieder ein Switch stattfand und wenn ja, wer nun eigentlich dargestellt wird. Manche Rollen zeigt er klar abgesetzt, andere kaum. Am besten gelingen ihm die Momente als Helena, was natürlich die Hauptsache, aber eben nicht alles ist.

Ein weiterer Kritikpunkt ist die Anlegung der Figur Gudrun, der Schulfreundin von Klaus, die zumindest in der Düsseldorf-Vorstellung wie ein Abklatsch von Chantal aus “Fack Ju Göhte” wirkt, und das war halt vor 15 Jahren lustig. Natürlich soll das für eine kurze Auflockerung sorgen, allerdings wird der ansonsten durchweg sehr feinfühlige Ton des Stücks hier ein wenig ad absurdum geführt. Unnötig. Würde Gudrun ganz normal und nicht in falscher Kiezdeutscher Grammatik sprechen, würde die Message exakt genauso herüberkommen. Lacher gehen auch weniger klischeehaft.

Zuletzt ist aber Mark Seibert generell als der Mensch, der er ist, zwar eine mögliche Besetzung – ihm fehlt es aber doch schon doll an Authentizität. Selbst wenn Seibert gesanglich wirklich alles gibt und weit aus seiner Komfortzone heraustritt, wirkt er zu jeder einzelnen Sekunde nach Cis-Mann. Wir möchten hiermit ausdrücklich klarstellen, dass jeder Mensch für sich selbst sein Gender definieren kann und es selbstverständlich keine klaren Indizien dafür gibt, ob jemand ein Mann, eine Frau oder ein anderes Geschlecht ist. Allerdings drehen sich weite Teile des Stücks um eine geschlechtsangleichende OP, was also zeigt, dass es der Figur Helena nicht genügt, sich einfach nur als Frau zu definieren – sie möchte auch die entsprechenden Geschlechtsteile. Mark Seibert jedoch ist ein derartig “kerliger” Mann, dass man schon arg viel Fantasie braucht, um in ihm eine Transfrau zu sehen. Ja, wir sind hier im Theater, ja, Theater darf alles, ja, man muss nicht alles genau so optisch zeigen, wie man es erzählt – aber viele Dinge im Stück werden durch Requisite oder Bewegung typisch feminin dargestellt, sodass zumindest dahingehend die Besetzung mit ihm etwas inkonsequent wirkt. Spätestens, wenn Seibert über eine hinter sich gebrachte Brust-OP berichtet, sorgt das für Irritationen. Außerdem ist es schade, dass Seibert kein einziges Mal ein Kleid trägt, sondern sich lediglich anhält.

Parallel zum NRW-Debüt gibt es diesen Monat an der Oper Leipzig eine Premiere des Stücks mit einer Transfrau als Besetzung. Die Musicaldarstellerin Amy ist demnach die erste trans Person, die Ein wenig Farbe spielen wird. Man darf gespannt sein, wie dieser Ansatz funktioniert. Sowieso kann man darüber diskutieren, ob der Gesang wirklich die wichtigere Rolle spielt als das Schauspiel. Six selbst sagte in Interviews, dass für ihn die Rolle sowohl von Männern als auch von Frauen und Transmenschen gespielt werden können. In der Theorie auf jeden Fall richtig, in der Praxis zumindest für uns nicht ganz stimmig. Wenn schon Cis-Mann, dann wäre zumindest unserer Meinung nach entweder durch Make-up und Kostüm oder eben durch eine androgynere Person etwas mehr an Glaubwürdigkeit dazu gewonnen. Dass Seibert aber zumindest aus finanzieller Sicht eine gute Wahl ist, zeigt der üppig ausgestatte Merch-Stand, der vor der Vorstellung und während der Pause non stop leergekauft wird.

Nichtsdestotrotz ist das wirklich sehr außergewöhnliche und hervorragend geschriebene wie komponierte Musical Ein wenig Farbe für Fans des Genres, aber auch für die gesamte queere Community ein Mustseen, das trotz gerade einmal eine*r Darsteller*in in anderthalb Stunden nie langweilt oder kalt lässt. Ein Applaus für den Mut, da zwar immer gern behauptet wird, wie normal Transidentitäten doch heute in der Gesellschaft wären, man aber anhand von Medienberichten schnell herausfindet, dass bis “normal” im Sinne von “gleichberechtigt” noch arg viel Luft nach oben ist. Rory Six zeigt einen weiteren Ansatz für mehr Sichtbarkeit und Mitgefühl.

Und so sieht das aus:

Website / Facebook / Instagram

Foto von Christopher Filipecki

* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert